# taz.de -- Zeichentrickfilm „Prinzessin Kaguya“: Eine Welt aus Linien und … | |
> Mit ihr verliert die Welt ihre Konturen. Der Film „Die Legende der | |
> Prinzessin Kaguya“ zelebriert die Schönheit von Hand gefertigter Bilder. | |
Bild: Prinzessin Kaguya lernt von den Fröschen laufen. | |
Als der Bambussammler Okina die spätere Prinzessin Kaguya in einer | |
Bambusstaude oder genauer: in gleißendem weißem Licht, aus dem heraus sie | |
ihn mit offenherzigem Augenaufschlag anblickt, entdeckt, ist sie noch so | |
klein, dass er sie in seinen Händen verbergen kann. Doch schon während er | |
sie seiner Frau überreicht, beginnt sie zu wachsen und hat, buchstäblich im | |
Handumdrehen, die Größe eines gewöhnlichen Säuglings erreicht. | |
Diese bezaubernde Szene einer zweiten Geburt nimmt nur wenige Sekunden | |
Filmzeit in Anspruch – das heißt in diesem Fall: ein paar hundert | |
gezeichnete Bilder. Denn „Die Legende der Prinzessin Kaguya“ ist ein | |
Zeichentrickfilm, der, von wenigen computeranimierten Passagen abgesehen, | |
komplett von Hand gefertigt wurde. Diese Technik ist, zumindest was | |
großformatige kommerzielle Produktionen betrifft, im Aussterben begriffen. | |
Kaum ein Film könnte eindringlicher deutlich machen, was das Kino an ihr | |
und an dem legendären japanischen Studio Ghibli, das „Die Legende der | |
Prinzessin Kaguya“ produzierte und unlängst angekündigt hat, bis auf | |
Weiteres keine neuen Projekte mehr in Angriff nehmen zu wollen, zu | |
verlieren droht. | |
## Bildraum mit flächiger Farbigkeit | |
Im Zeichentrickfilm besteht die Welt aus Linien und Farben. Was das heißt, | |
kann man in „Die Legende der Prinzessin Kaguya“ besonders gut | |
nachvollziehen, weil die Linien wie mit einer Tuschefeder prägnant und | |
nicht immer gleichmäßig gezogen sind, oft eher skizzenhaft hingeworfen | |
wirken; und weil die Farben den Raum zwischen den Linien nicht exakt | |
ausfüllen, sondern wie in der Aquarellmalerei über sie hinausschießen, den | |
Bildraum mit flächiger Farbigkeit überschwemmen, anstatt einfach nur | |
Vorgefertigtes anzumalen. | |
Es ist umso rührender, wenn aus diesen mit einfachsten Mitteln gefertigten | |
antirealistischen Bildern trotzdem Figuren, Geschichten, Leben entstehen. | |
Die andauernde Verlebendigung der Linien und Farben dominiert vor allem den | |
Anfang des Films. Kaguya lernt von den Fröschen laufen, tobt, umgeben von | |
Insekten und Vögeln, mit anderen Kindern durch die Natur, nähert sich dem | |
Nachbarsjungen Sutemaru an. Währenddessen setzt sich ihr rapides Wachstum | |
fort – und dann muss sie urplötzlich das Dorf verlassen, weil ihr Ziehvater | |
die Chance wittert, durch ihre Schönheit in der Stadt zu Reichtum zu | |
gelangen. | |
## Befreiung und Gefängnis | |
Hier in der Stadt dominieren die rechten Winkel einer unbarmherzigen, wie | |
mit dem Lineal gezogenen Architektur. Die Linie kann beides sein, Befreiung | |
und Gefängnis, sie kann Leben hervorbringen und auch wieder stillstellen. | |
Das ist die basale Ambivalenz, die der Film auf unterschiedlichen Ebenen – | |
erstaunlich komplex und gleichzeitig herzerweichend – auffaltet. | |
Grundlage ist das „Taketori Monogatari“, eine Sage aus dem 10. Jahrhundert. | |
Isao Takahata, der fast 80-jährige Regisseur des Films, destilliert aus dem | |
Stoff die feministische Geschichte einer Frau, die sich dagegen wehrt, den | |
ihr sozial vorgezeichneten Platz in einer durchritualisierten Welt | |
einzunehmen. Tatsächlich verhärtet sich nicht nur die Welt um Kaguya, | |
sobald sie die Stadt betritt; auch sie selbst wird neu gezeichnet, gemäß | |
der Etikette für japanische Damen aus gutem Haus: Ihre Augenbrauen werden | |
mit Kohle nachgezogen, ihre Zähne geschwärzt. | |
Zugleich ist es Kaguya selbst, die die festgefahrenen Linien immer wieder | |
deformiert, die eingesperrten Farben befreit. Als ein nicht zu bändigender | |
grafischer Unruheherd wirbelt ihre zierliche, ungestüme Gestalt durch die | |
streng parzellierte Welt. Wenn sie in einer Sequenz dem | |
Gesellschaftsgefängnis ganz entflieht, auf der Suche nach den grünen Hügeln | |
und Bambuswäldern ihrer Jugend, dann verliert Kaguya, und mit ihr die Welt, | |
vollends ihre Konturen, für ein paar magische Minuten fliegen nur noch lose | |
aneinandergebundene Farbflecken durch einen vollends entgrenzten Bildraum. | |
## Gemeinsamer Flug durch die Wolken | |
Doch bald kehren die klaren, gerade Linien zurück. Das ländliche Paradies | |
ist auf immer verloren – das zeigt besonders eindrücklich eine letzte | |
Begegnung mit der Jugendliebe Sutemaru. Ihr gemeinsamer Flug durch die | |
Wolken ist eine bloße nostalgische Fantasie. Der Film hat anderes vor mit | |
Kaguya. | |
Sie muss sich der Versuche ihres Vaters erwehren, sie zu verheiraten; und | |
ganz am Ende meldet eine weitere, eine himmlische Ordnung Ansprüche an sie | |
an, eine Ordnung, die endgültig keine deformierte Linie, keine über die | |
Linie hinausschießende Farbe mehr zulässt, die schließlich den Film selbst | |
auslöscht und nichts zurücklässt als Tränen. | |
20 Nov 2014 | |
## AUTOREN | |
Lukas Foerster | |
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