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# taz.de -- Retrospektive zu Regisseur Miklós Jancsó: Fantasien von Macht und…
> In Frankfurt lassen sich die Filme des ungarischen Regisseurs Miklós
> Jancsó wiederentdecken. Die Retrospektive ist transeuropäisch.
Bild: Miklós Jancsós „Das Herz des Tyrannen“ ist eine entfesselte Fantasi…
Wie stellt man sich einen Film über Attila den „Hunnenkönig“ vor, also ü…
jenen Kriegsherrn, der im 5. Jahrhundert in Zentraleuropa und vor allem auf
dem Gebiet des heutigen Ungarns mit seinen Feldzügen Angst und Schrecken
verbreitete? Man hat sofort einen opulent ausgestalteten Bilderbogen vor
Augen. Zumindest sollte es Gelegenheit für jede Menge wilde, ungestüme,
blutige Schlachtenszenen geben, dazwischen vielleicht noch ein wenig
saftigen, amoralischen Sex.
Der Film „La tecnica e il rito“, den Miklós Jancsó 1974 über Attilas Leb…
gedreht hat, zeigt stattdessen ein paar Dutzend Männer, die sich in
ausgeklügelten Choreografien eineinhalb Stunden lang über (mehr oder
weniger) ein und denselben Schauplatz bewegen, antinaturalistische
Theaterdialoge aufsagen und zwischendurch immer wieder zu Trommelschlägen
in Trance verfallen zu scheinen.
Die Handlung dreht sich zwar darum, dass der machthungrige und wahnhafte
Attila (verkörpert von József Madaras, einem Lieblingsschauspieler Jancsós,
dessen gedrungene Gestalt und verschlossenes Gesicht denkbar unpassend
scheinen für den wuchtigen, virilen Tatmenschen, als den man sich den
Hunnenherrscher vorstellt) aus Angst vor Verrat einen ehemaligen
Mitstreiter nach dem anderen und schließlich sogar seinen eigenen Bruder um
die Ecke bringt.
## Technik und Ritual
Irritierend an dem Film ist freilich, dass diese Morde gar nichts Eruptives
an sich haben: Weder die Täter noch die Opfer verziehen eine Miene, wenn
sie meucheln oder gemeuchelt werden, die innere Notwendigkeit der Taten
scheint stets beiden Seiten unmittelbar einzuleuchten. Wie alles andere
reduziert der Film auch tödliche Gewalt auf die zwei Begriffe, die er im
Titel trägt: Technik und Ritual.
Geschichte als komplexe Todesmaschine, die sich zwar notwendig durch
menschliche Körper hindurch vollzieht, aber nicht auf individuelles
Bewusstsein oder andere Kategorien der Psychologie angewiesen ist: Das ist
ein durchgängiges Thema in den Filmen Jancsós, der im Januar 2014 im Alter
von 93 Jahren in Budapest starb.
Sein Werk verweigert sich humanistischen Vorstellungen von Subjektivität
derart strikt, dass man seinen kunstfertigen, mäandernden Kamerafahrten
mitunter eine Maschinengrausamkeit unterstellen möchte, die nicht weit weg
ist von Leni Riefenstahls faschistischen Massenornamenten.
## Freude am Puppenspiel
In „La tecnica e il rito“ allerdings nimmt das marionettentheaterhaft
Minimalistische des Jancsó-Stils so weit überhand, dass der distanzierte
Blick auf die hilflos vor sich hin agierenden Figuren ganz und gar nicht
mehr triumphalistisch wirkt, sondern als eine Form von Empathie lesbar
wird: Nur weil ein Regisseur Freude am Puppenspiel hat, heißt das nicht,
dass er nicht in der Lage ist, mit seinen hölzernen Geschöpfen mitzuleiden.
Dass nicht nur seine römischen Widersacher, sondern auch Attila selbst
wiederum durchgängig italienisch spricht, könnte man für einen brechtschen
Verfremdungseffekt halten; es liegt freilich daran, dass Jancsó sein
dekonstruktives Biopic über den ungarischen Nationalhelden nicht in dessen
und seinem Heimatland, sondern fürs italienische Fernsehen gedreht hat.Das
ist bemerkenswert, weil Jancsó für die kanonische Filmgeschichtsschreibung
nicht nur ein wichtiger Teil des ungarischen Kinos, sondern fast mit diesem
identisch ist.
So wie Ingmar Bergman für das schwedische und Theo Angelopoulos für das
griechische Kino stehen, steht Jancsó für das ungarische – oder zumindest
tat er das in den 1960er und 1970er Jahren, als er mit Filmen wie „Die
Hoffnungslosen“ (1965) oder „Roter Psalm“ (1971) zum Kritikerliebling und
Dauergast der internationalen Festivalszene wurde; spätestens seit den
1990er Jahren hat Béla Tarr seinen weiterhin außerordentlich produktiven
Landsmann als Aushängeschild des ungarischen Kinos abgelöst.
## Das Schicksal vieler weniger prominenter Kinoländer
Das scheint das Schicksal vieler weniger prominenter Kinoländer zu sein:
Für mehr als einen großen Meisterregisseur pro (kleine) Nation ist kein
Platz im filmkulturellen Diskurs.
Wenn das Filmmuseum Frankfurt in Zusammenarbeit mit dem Kuratorenteam
Filmkollektiv Frankfurt – Projektionsraum für unterrepräsentierte
Filmkultur e. V. nun Jancsó (und nicht Tarr) eine Retrospektive widmet,
dann widersetzt es sich einerseits diesem Automatismus, der Filmgeschichte
auf eine nationale Quotenregelung reduziert. Und andererseits stellt es
einen grundlegenderen, noch problematischeren Automatismus infrage: Wie
kommt man überhaupt dazu, Regisseure in erster Linie als Repräsentanten
ihres Herkunftslands zu sehen?
Gerade auf Filmfestivals ist das weit verbreitet, wenn man sich zwischen
zwei Filmen darüber unterhält, warum „der Koreaner“ nichts taugt, „der
Rumäne“ aber grandios ist. In Frankfurt werden nun gerade nicht Jancsós
ungarische Filme präsentiert, sondern die internationalen
(Ko-)Produktionen, die der Regisseur ab Ende der 1960er Jahre in diversen
europäischen Ländern verwirklichen konnte.
## Filmtechnische Extravaganzen
Und tatsächlich ermöglichen die transeuropäischen Projekte eine komplett
neue Perspektive auf einen Regisseur, dessen Werk allzu oft auf bloße
filmtechnische Extravaganzen reduziert wird; viel kommentiert sind vor
allem seine elaborierten tracking shots, in denen sich aus der Interferenz
von Figurenbewegung und Kamerabewegung immer wieder neue, erstaunliche
Effekte ergeben.
Die beiden ältesten Filme des Programms, „Sterne an den Mützen“ (1967) und
„Schirokko“ (1969), sind noch nahe an den berühmteren ungarischen Filmen:
aufwändige Reinszenierungen historischer Konflikte, die in letzter
Konsequenz stets von der Ohnmacht der Macht erzählen. Der mit französischem
Geld produzierte „Schirokko“ beschreibt in gerade einmal zwölf ellenlangen,
exakt durchkomponierten Einstellungen eine Intrige um Mitglieder eines
(wenigstens heute) obskuren Geheimbunds kroatischer Faschisten.
Wie ein kompletter, absichtsvoller Stilbruch wirkt dagegen der erste einer
ganzen Reihe von Filmen, die Jancsó in Italien drehte: Wo seine vorherigen
Langfilme in ländlichen Settings und der Vergangenheit angesiedelt waren,
spielt „La pacifista“ im studentisch politisierten Rom seines
Entstehungsjahrs 1970.
## Innenleben seiner Figuren weitgehend opak
Und wo sonst das Innenleben seiner Figuren weitgehend opak bleibt, meldet
sich diesmal ein Voice-over zu Wort, das einem die freilich weitgehend
inhaltsleeren Gedanken der Hauptfigur Barbara (stylischer denn je:
Antonionis Muse Monica Vitti) permanent, geradezu penetrant näherbringt.
Seinerzeit hatte „La pacifista“ einen schweren Stand bei der Kritik.
Ähnlich erging es der „Großen Orgie“ (1976), einer weiteren, eher bizarren
italienischen Produktion, die die „Affäre Mayerling“ in einen
grenzpornografischen erotischen Reigen auflöst. Gute Filme sind das auch
mit 40 Jahren Abstand nicht – trotzdem lohnt ihre Wiederentdeckung, weil
sich in ihnen die Widersprüche eines Zeitgeistes, der euphorische sexuelle
Libertinage und ideologisches Sektierertum vereint, aufs Wundersamste
abbilden.
Der vielleicht schönste Film der Reihe, wenn nicht überhaupt in Jancsós
Schaffen, entsteht allerdings wieder in Ungarn, freilich mit italienischem
Geld und auch mit einem italienischen Schauspieler: Der Pasolini-Star
Ninetto Davoli mischt in „Das Herz des Tyrannen“ (1981) mit, einer in jeder
Hinsicht entfesselten Fantasie um Machtmissbrauch und Intrigen, diesmal im
Ungarn des 15. Jahrhunderts, aber auch um eine somnambule,
jungfrauenfressende Königin, die der historischen Serienmörderin Elisabeth
Báthory nachempfunden ist.
Genau für solche außerweltlich schillernden Funde braucht das Kino
wagemutige Filmarchäologen wie die vom Filmkollektiv Frankfurt.
NaN NaN
## AUTOREN
Lukas Foerster
## TAGS
Spielfilm
Zeichentrick
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