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# taz.de -- Ungarischer Kinofilm „Sunset“: Das Grauen hinter dem Schein
> Dieser Film ist wie ein Schleier: In „Sunset“ von László Nemes wandelt
> eine rätselhafte Frau durch das Budapest am Vorabend des Ersten
> Weltkriegs.
Bild: Als Írisz Leiter (Juli Jakab) in Budapest​ ankommt, ist noch alles o…
Der erste Hut, den sie trägt, verhüllt ihr Gesicht. Sie blickt nach unten,
zu sehen ist nur ihr Mund, der scheinbar lächelt, dann eine sachte
Ernsthaftigkeit offenbart. „Lüften wir den Schleier“, sagt eine zweite Frau
irgendwo aus dem Raum, jenseits des Sichtbaren. Der Kopf hebt sich, die
ungarische Schauspielerin Juli Jakab wird erkennbar.
Schon in László Nemes’ Spielfilmdebüt [1][„Son of Saul“] wirkte Jakab …
war dort im Rausch der verstörenden Ereignisse allerdings nur kurz zu
sehen. In Nemes’ neuem Film, „Sunset“, tritt sie jetzt aus dem Schatten u…
nimmt das Zentrum des Bilds ein, gibt mit durchdringendem Blick die
Unternehmerstochter Írisz: eine rätselhafte, verlorene Seele, die kurz vor
dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs durch die europäische Weltstadt Budapest
wandelt.
Ein Film wie ein Schleier. Über das, was im Verborgenen ergründet werden
muss, und das, was überhaupt sichtbar werden kann. „Sunset“ ist trotz
seiner genauen Verortung in Zeit und Raum ein ganz und gar
traumwandlerisches Angebot. Denn Nemes interessiert sich mehr für die
Gegenwart des Wahrnehmens als für die logische Einordnung und
Beherrschbarkeit des Vergangenen. Er und sein Kamermann Mátyás Erdély
erheben mit einem desorientierend nahen, sich ständig verlagernden Blick
keinen Anspruch auf vollständige Abbildung. Sondern sie lassen vieles, was
sich um die Heldin herum abspielt, ins Unscharfe abgleiten.
So fühlt sich der Film visuell auffällig ähnlich an wie „Son of Saul“,
entstand allerdings aus anderen Gründen: In seinem Debüt interessierte sich
Nemes für die Ethik der Abbildung eines Konzentrationslagers. Er weigerte
sich, die immer gleichen Gewaltbilder zur NS-Zeit zu reproduzieren und
etwaige Erwartungshaltungen an einen KZ-Film zu bedienen.
In „Sunset“ beschäftigt ihn nun das undurchdringliche Getümmel der
Großstadt und darin ein weiter gefasster Sinn historischer
Orientierungslosigkeit. Mit einem großzügigeren Bildformat versucht er sich
an einer breiten Skizze der europäischen Zivilisation am Rande des
Zusammenbruchs, allerdings erneut durch den Filter einer einzelnen, absolut
gesetzten Wahrnehmung.
## Nach Jahren kehrt sie zurück
Írisz Leiter wird im Film zur Symbolfigur, denn sie ist nicht irgendwer.
Sie ist die Tochter der bekanntesten Hutmacherfamilie Budapests. Der
österreichische Hof aus Wien gibt sich regelmäßig die Ehre, selbst Sissy
war zu Besuch. Das gewichtige Haus konnte auch von einem großen Feuer nicht
zerstört werden, doch Írisz verlor ihre Eltern und wurde im Kindesalter in
ein Heim gegeben. Nach Jahren kehrt sie zurück und versteht ihre Position,
sucht sich Wege in den Betrieb, lernt die österreichische Kundschaft und
den Adel vor Ort kennen, weiß die Strukturen für sich zu nutzen – und sie
hört von einem Bruder, der totgeschwiegen wird.
Im Sprechen über diesen geisterhaften Bruder enthüllen sich Wahrheiten,
Scheinwahrheiten und Gerüchte. Bald scheint es, als wäre der Hutladen eine
Miniatur seiner Zeit: der Abgründe, die sich kurz vor dem Krieg im Menschen
auftun und die Eskalation erst ermöglichen; der Extravaganz, die alles
kaschiert, was nicht zu ertragen ist; der Schönheit und der
Warenhaftigkeit, die sich in der angepriesenen Mode ebenso wie in der
Belegschaft darstellen soll. Nachdem sich Nemes mit „Son of Saul“ zu der
Frage verhielt, ob es eine Kunst nach der Schoah geben kann, erforscht
„Sunset“ nun die Idee eines manipulativen Scheins, der jedes Grauen hinter
sich zu verbergen vermag.
Írisz sieht aus wie ihre Mutter, könnte deren Reinkarnation sein. Das
bezeugt schon zu Beginn ein Bild, das sie genau betrachtet. Und wenn die
Leute sie immer wieder anstarren, selbst im Vorbeigehen noch obsessiv
mustern, sind die Blicke gleichermaßen auf sie und ihre Geschichte
gerichtet. Mit ihrem Auftreten kehrt das Vergangene zurück als taktlose
Konfrontation: Írisz verhält sich unmöglich, insbesondere für eine Frau
dieser Zeit. Sie respektiert keine Grenzen und Verbote, stellt unbequeme
Fragen, läuft wie eine Getriebene in dunkle Gassen und wühlt auf, was alle
verdrängen wollen. Ein Verdrängen, das unmissverständlich ein Wissen
voraussetzt.
## Haltlosigkeit des Geschehens
Immerzu flüstert es in diesem Film. Nemes nutzt Stimmen erneut als dichtes
Geflecht, das das Geschehen umspinnt und dessen Möglichkeitsräume ausdehnt.
Sprache verbirgt hier ebenso viel, wie sie enthüllt. Die Menschen sprechen
mit einer geheimnisvollen Gewissheit über die Ereignisse der letzten Jahre
und geben dennoch ungern etwas von sich preis. Österreichischer Adelssprech
mischt sich mit vulgärem Mordgeschrei und zynischem Understatement. Der
Fluss der dynamischen ungarischen Rhetorik befeuert die unruhige
Haltlosigkeit des Geschehens. Auf ausgesprochene Worte treffen grollende
und gurgelnde Laute, Keuchen, Lechzen und Stöhnen; fast tierische Geräusche
entlockt der Film dem Menschen.
Anders als in seinem vorherigen Film vermengt Nemes das Sprechen nun zudem
unentwegt mit Musik. Kaum ein Moment, in dem nicht ein Instrument von
irgendwoher anklingt, Erwartungen und Drohungen auflodern lässt. Eine
permanente Grundspannung, als könnte der einzelne Mensch jederzeit von der
Gewalt der Welt zermalmt werden.
Írisz ist getrieben, hier hilflos, dort gnadenlos, durchschreitet die
Stadtwelt ohne Taktgefühl, taumelt von Klangraum zu Klangraum, Dichte zu
Dichte: von heimlichen Affären zur verlorenen Hütte im Wald, zum knarrenden
Hotel, zur letzten Station der Straßenbahn, zum Komplott im Hinterraum, zum
Teufelspalast. Und stets ist sie umgeben von den Menschen, zwischen denen
sie ihre Bahnen zieht.
## Choreografische Inszenierungsweise
Nemes brach die Filmschule ab und assistierte bei Béla Tarr, der in den
„Werkmeisterschen Hamonien“ Körper wie Planeten behandelt. Mit seinen
hypergegenwärtigen Geschichtsfilmen, seiner choreografischen
Inszenierungsweise und langen Einstellungen stellt er sich ebenso in eine
Traditionslinie mit Miklós Jancsó, umkreist in seinem Sprechen über das
Kino eine Idee der Destabilisierung und des mündigen Publikums.
Nemes verteidigt ein Filmemachen, das sich bei der Konfrontation von
Machtrealitäten und Blickregimen nicht hinter erzählerischen Konventionen
versteckt. Möglich war seine Arbeit an „Sunset“ nicht nur durch seinen
Oscar-Erfolg mit „Son of Saul“, sondern auch durch die vergleichsweise gute
Stimmung in der ungarischen Filmförderung. Die überwachte seinerzeit der im
Januar gestorbene ehemalige „Rambo“-Produzent und Orbán-Vertraute Andrew
Vajna als Regierungskommissar, der sich seit 2011 durch eine unerwartet
progressive Haltung zum Autorenkino profiliert. Ganz anders als im Theater,
der Wissenschaft, oder der bildenden Kunst, wo Maßregelungen das
Tagesgeschäft prägen.
Den einzigen Raum, den man Írisz im Film verwehrt, wird sie, verkleidet als
Mann, betreten, denn die letzten Grenzen sind die des eigenen Körpers und
der Identität. Anders als der KZ-Häftling Saul Ausländer findet Írisz
Leiter in sich keine lebensbejahende Kraft, sondern entdeckt in ihrer
Biografie und letztlich ihrem Herzen einen soghaften Abgrund. Ein
Psychologe meint über ihren Bruder, er projiziere seinen eigenen Horror auf
die Welt, und markiert damit einen historischen Moment, in dem sich die
Psychoanalyse und das Kino als junge Disziplinen begegnen. Írisz lauscht
der Diagnose des fortschrittlichen Mediziners, wie im Bewusstsein, dass
diese Welt keine unschuldigen Leinwände bietet.
12 Jun 2019
## LINKS
[1] /Ungarischer-Kinofilm-Son-of-Saul/!5281846/
## AUTOREN
Dennis Vetter
## TAGS
Spielfilm
Sunset
László Nemes
Schwerpunkt Erster Weltkrieg
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Kino
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