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# taz.de -- 14-Stunden-Filmprojekt „La Flor“: Im B-Movie um die Welt
> Das Mammutprojekt „La Flor“ des argentinischen Regisseurs Mariano Llinás
> überrascht – trotz Länge – mit Leichtigkeit.
Bild: Sie sind in jedem Teil dabei: die vier Hauptdarstellerinnen von „La Flo…
Der Regisseur Mariano Llinás setzt sich zu Beginn seines bis dato
aufwendigsten Filmprojekts, „La Flor“, erst einmal selbst vor die Kamera
und erklärt, was los ist. Während der letzten zehn Jahre drehte er „La
Flor“ und breitete seine Ideen zum Kino 14 Stunden lang auf sechs Episoden
aus. Was er in seiner Einführung erst aufplustert, hat dann doch eine
beachtliche Lockerheit und macht unglaublich viel Spaß. „La Flor“ verdient
den Titel eines Kinomanifests und zählt dennoch zu den leichtesten und
erfrischendsten Kinoerfahrungen des Jahres.
Seit der Jahrtausendwende tritt Llinás der Öffentlichkeit als Regisseur und
Drehbuchautor gerne und mit zunehmender Reichweite gegenüber, steht
persönlich für das unabhängige Filmemachen in Argentinien ein und auf: für
eine geldunabhängige, selbst organisierte Filmpraxis, die sich offiziellen
Förderstellen und verbreiteten Filmformen nicht nur ausdauernd verweigert,
sondern sich formal deutlich gegen diese auflehnt. Weder positioniert er
sich dabei im populären Kino der großen Budgets noch im strengen,
nachdenklichen Festivalkino der kleinen Gesten.
Stattdessen sucht er nach einer Verbindung der Sphären, nach einem
befreiten Umgang mit dem erzählerischen Kino. Seit 2008 findet seine Stimme
durch den nachhallenden Erfolg seines Films „Extraordinary Stories“ auch
international noch stärker Gehör, der Künstler ist zur populärsten
Gegenfigur zu argentinischen Festivallieblingen wie Lucrecia Martel oder
Lisandro Alonso avanciert.
„Die erste Episode ließe sich als B-Movie betrachten“, meint Llinás. „D…
Art von B-Movie, die die Amerikaner früher mit geschlossenen Augen gedreht
haben und heute einfach nicht mehr hinbekommen.“ Ein B-Movie also, dem
Vorurteil nach ein Film zweiter Klasse. Billig produziert, nicht selten im
Genrekino verwurzelt. Monster, Mörder, offene Wunden, nackte Haut: In der
Filmgeschichte gibt es sie zuhauf, zweifelsohne. Vielleicht wurden bereits
mehr billige Filme vergessen als bewahrt.
Llinás’ These zu folgen wirft die Frage auf, ob billige Unterhaltungsfilme
aus einer Naivität entstanden sein könnten, die der Gegenwart
abhandengekommen ist. Solche „mit geschlossenen Augen“ gedrehten Filme zu
sehen, das verbreitet unter Filmfans gute Laune – insbesondere aus
gegenwärtigen Sehgewohnheiten heraus und unter anderem auch deshalb, weil
diese Filme in der Regel nicht behaupteten, klüger als ihr Publikum zu
sein. Das Gemachte zu erkennen macht beim Blick auf derlei vergangene
Kino-Fundstücke mindestens einen Teil des Vergnügens aus.
## Selbst gebastelter Leichnam
„La Flor“ beginnt in einem dilettantischen Tonfall zu erzählen, zeigt eine
Ausgrabungsstätte, in der schon bald und quasi aus Versehen eine gruselige
Mumie auftaucht – in der Tat ein Fundstück aus der Vergangenheit. Die Mumie
haben Llinás und sein Team selbst gebaut, offensichtlich. Und doch
verwandelt die Kamera (ein billiges Exemplar) die günstige Attrappe mühelos
in ein Horrorwesen. Der selbst gebastelte Leichnam sitzt da und streckt
seine Hand aus, als hieße das etwas: meistens im Bildhintergrund, nicht
selten aus der Unschärfe heraus. Die leuchtenden Augen sind, ganz im Sinne
von Llinás’ Einführung, verbunden.
Das Team der Ausgrabungsstätte ist selbstverständlich baff und überfragt
mit dem alten Körper, besonders, als sich mysteriöse Vorfälle zu häufen
beginnen. Die Mumie scheint, wer hätte es geahnt, mysteriöse Kräfte zu
besitzen und beeinflusst erst die Laune einer Katze, dann die
Befindlichkeit einer Kollegin. Und die Lösung kommt unerwartet: Eine
Expertin für das Okkulte mischt sich ein und ergreift die Initiative!
Die Geschichte erzählt sich kurzweilig und braucht kein Ende, weil es auch
eine andere Geschichte sein könnte. „Fortsetzung folgt“ leuchtet bei „La
Flor“ nicht nur einmal von der Leinwand. Llinás behauptet nicht, eine
einzelne Erzählung könne zentral sein. Aber er macht klar, dass die
richtigen Menschen vor der Kamera stehen müssen. Vier Frauen sind
unersetzbar und wechseln die Rollen: Elisa Carricajo, Pilar Gamboa, Valeria
Correa und Laura Paredes, denen Llinás seinen Film widmet und die ihn
gleichermaßen mit produziert haben.
## Karriere zweier Popstars
Schnell offenbart sich, dass die Form des ersten Abschnitts nicht auf
diesen beschränkt bleibt. Jede der sechs Episoden gehorcht zwar anderen
Regeln und imitiert andere Filmformen, doch liegt ihnen allen ein
gemeinsames Spiel zugrunde. Wenn Episode zwei wie angekündigt ins
Musicalfach wechselt und die Karriere zweier Popstars nachzeichnet, fühlt
sich das Ganze nicht weniger ironisch an als der erste Abschnitt, nicht
weniger handgemacht.
Wie im ersten Abschnitt geizt Llinás dann auch nicht mit überbordenden
Musikeinsätzen, verschiebt die Stimmung bloß vom Unheimlichen ins
Romantische, gibt der Geschichte eine entwaffnende Melancholie und lässt
rührendes Pathos an die Stelle gruseliger Albernheiten treten. Meistens
zumindest: Das Fantastische lässt sich nicht einfach verdrängen und mischt
sich in Gestalt einer obskuren Sekte weiter ins Geschehen ein.
Was die Eindrücke der ersten Episoden verbindet, ist eine feine Ironie,
eine sachte Kennzeichnung der filmischen Welt als künstliche Welt, als
Spielplatz der Erfindungen, Figuren und Ideen. Was geschieht, hat sich an
Wahrscheinlichkeiten und Realismen nicht zu messen.
## Auf dem Globus herum
Dann folgen vier Episoden und rund zehn Stunden. Von Episode zu Episode
verwandeln sich die filmischen Weltentwürfe und Erzählweisen weiter,
kommentieren einander und legen sich übereinander. Es zeigen sich noch
mehr Gemeinsamkeiten: etwa wenn die Kamera Schärfen verlagert und
Einstellungen immer wieder in die Tiefe abgesucht werden – gerade wenn
Figuren oberflächlich bleiben. Die Menschen sind platziert, stehen in
Gruppen, sprechen gekünstelt. Vom spanischen Sprachraum springt die
Geschichte bald auf dem Globus herum, verlässt ihren Rahmen, ihre
Koordinaten, ihre Zeit. Die Achtziger werden durchwandert, es geht nach
London, Paris, Berlin, Bulgarien und Sibirien.
Erzählstimmen kommentieren auf einmal die Figuren, überblicken den Plot.
Und dann eine Kehrtwende in den letzten drei Episoden: Das sachte
Augenzwinkern der ersten Teile, der Hang zum Handgemachten, hat ja bereits
den Blick geöffnet. Also beginnt Llinás mit Gedanken über das Kino selbst.
Episode vier betrachtet einen Film, der gerade entsteht, schon seit sechs
Jahren. Die Schauspielerinnen sind genervt und stellen sich gegen den
Regisseur. Der will lieber Bäume filmen. Eine Setassistenz fragt nach den
anderen Episoden, das bringt den Regisseur auf die Palme.
Er flieht in die Natur und in sein Notizbuch: „Das Problem ist die
Starrheit, die Routine, die permanente Anspannung, die sie erzeugen. Das
Gefühl, immer danebenzuliegen, sich immer zu täuschen, immer vom Weg
abzukommen. Ich betone: Das Problem sind nicht sie. Oder doch?“ Der Mann
will weg von seinen Darstellerinnen, und doch gibt es ohne sie keinen Film.
Im Motiv der Schaffenskrise sucht „La Flor“ nicht nach Antworten, sondern
nach neuen Spielen, und geht mit dem Schwung des Unberechenbaren in eine
letzte Phase, die die Filmgeschichte selbst an der Wurzel packen soll: Ein
Film von Jean Renoir wird zitiert und imitiert, dann ein beherzter Sprung
ins Experimentelle, in die Auflösung, in die Hoffnung auf eine Freiheit von
alten Geschichten und alten Deutungshoheiten: „Memoiren einer Engländerin
in Gefangenschaft in den südamerikanischen Ebenen.“
25 Jul 2019
## AUTOREN
Dennis Vetter
## TAGS
Spielfilm
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