# taz.de -- Kolumne Der rote Faden: Zucchini und Hakenkreuz | |
> Denkmuster abzulegen, ist gar nicht so einfach, aber es lohnt sich. In | |
> Berlin-Neukölln, in Colmnitz und auf dem Balkon. Ein Wochenrückblick. | |
Bild: Zucchini – gar nicht so gefährlich. Hakenkreuze und Volksverhetzung ab… | |
Als ich vor einigen Tagen Zucchinipflanzen auf dem Balkon setzte, erinnerte | |
ich mich an einen Vorfall im August 2015. Damals starb in Baden-Württemberg | |
ein Mann, weil er Zucchini gegessen hatte. Es war giftiges Cucurbitacin in | |
dem Gemüse. Der Fall überraschte selbst Experten, denn eigentlich war | |
Cucurbitacin aus den Pflanzen herausgezüchtet worden; aber der Mann hatte | |
die Zucchini selbst gezogen, da kann das Gift wieder auftreten. Ich zögerte | |
einen Moment und überlegte, ob ich denn sicher sein kann, dass in diesen | |
Zucchinipflanzen vom Blumenladen kein Cucurbitacin ist. | |
Es gibt ein Buch von Rolf Dobelli, das in der englischen, dickeren Version | |
„The Art Of Thinking Clearly“ heißt. Dobelli ist Schweizer Schriftsteller | |
und Unternehmer und schreibt darin über verbreitete Denkfehler. | |
Ein Kapitel handelt vom Zufall und der Zwangsläufigkeit unwahrscheinlicher | |
Vorfälle. Dobelli schreibt von einem Vorfall aus dem Jahr 1950 und einem | |
Kirchenchor aus Nebraska, dessen Mitglieder aus unterschiedlichen Gründen | |
zu spät kamen und überlebten, als die Kirche wegen eines Gaslecks | |
explodierte. Gottes Hand, Schicksal, Glück könnte man das nennen – oder | |
daraus schließen, dass es lebensgefährlich ist, in einem Chor zu singen, so | |
wie man es tut, wenn man von einem (geplanten) Terroranschlag hört oder | |
eben von einer Zucchinivergiftung. | |
Dobelli schreibt, dass man, um Vorfälle rational einzuschätzen, die | |
Optionen anhand ihrer Häufigkeit durchdenken sollte. Für den Chor gibt es | |
vier Optionen: 1. Chor kommt, Kirche explodiert nicht, 2. Chor kommt nicht, | |
Kirche explodiert nicht, 3. Chor kommt, Kirche explodiert, 4. Chor kommt | |
nicht, Kirche explodiert. Wenn man bedenkt, wie oft die erste Option jeden | |
Tag weltweit zutrifft, wäre es unwahrscheinlich, dass nicht irgendwann | |
einmal auch die vierte Option zutrifft. Bedeutet: Es gibt nichts, was | |
niemals passiert, was aber nicht heißt, dass es fortan immer passiert. | |
## Die Sache mit der Salienz | |
Ein weiterer Denkfehler, den Dobelli in seinem Buch beschreibt, ist der | |
„Salience Effect“. „Salienz“ bezeichnet die Unterschiedlichkeit und | |
Auffälligkeit eines Reizes in Relation zum Kontext. Er beschreibt dazu etwa | |
einen Autounfall, bei dem Marihuana gefunden und dadurch voreilig auf die | |
Ursache geschlossen wird. Dieser Effekt war auch in Berlin-Neukölln zu | |
beobachten, wo eine Ladenbesitzerin mit einem Schild ein Hausverbot für | |
„Roma“ erteilte, weil sie angeblich von „Roma“ bestohlen wurde. Ein | |
Hausverbot für Diebe war es, was die Frau hätte erteilen sollen. Jetzt | |
ermittelt der Staatsschutz wegen Volksverhetzung. | |
Im sächsischen Colmnitz hat man sich unterdessen am vergangenen Wochenende | |
etwas geleistet, wofür es nicht wirklich ein Wort gibt. Also, in Österreich | |
schon, da heißt das juristisch „Wiederbetätigung“ und meint eine verbotene | |
Aktivität zur Erneuerung des Nationalsozialismus. Auf jeden Fall hatte der | |
Colmnitzer Heimatverein den Festumzug zur 900-jährigen Geschichte des Ortes | |
organisiert. | |
Dabei marschierte auch ein als Wehrmachtssoldat verkleideter Mann mit. An | |
der Uniform waren die Symbole überklebt, aber er trug einen Koffer mit | |
einem gut sichtbaren Hakenkreuz bei sich. Der Heimatverein hat sich | |
anschließend davon distanziert. Es habe sich lediglich um das Fehlverhalten | |
Einzelner gehandelt. | |
## Nicht wer, sondern wieso | |
Das mit dem Fehlverhalten Einzelner ist aber eben auch so eine Sache. Die | |
erste Frage ist immer: Wer ist schuld? Dabei sind die Ursachen meist | |
komplexer. Doch einen Schuldigen zu haben schließt unangenehme Vorfälle | |
schneller ab. Schon ein paar wenige Schuldige reichen oft aus für die | |
Begründung ganzer Kriege, Völkermorde und Wirtschaftskrisen. Dabei lautet | |
doch die eigentliche Frage gar nicht „Wer?“, sondern „Wieso?“. | |
Anhand von Colmnitz: Wieso kann ein Mann im Jahr 2016 einen | |
Hakenkreuzkoffer bei einem Umzug mit sich tragen, ohne dass ihn jemand | |
davon abhält? Ohne dass der Applaus abbricht? Ohne dass Buhrufe ertönen? | |
Was sind das für Umstände, was für Menschen und welchen | |
Geschichtsunterricht haben sie genossen, dass es überhaupt möglich ist, in | |
einer Wehrmachtsuniform durch eine deutsche Stadt zu laufen? Das einzige | |
Gefühl, das bei so einem Anblick heute angebracht ist, ist Scham und | |
Trauer. Kein Stolz, kein Patriotismus, nicht mal Gedenken können Anlass | |
sein, eine Wehrmachtsuniform zu tragen oder jemandem zu applaudieren, der | |
sie trägt. | |
Die Ironie daran ist, dass diejenigen, die nicht verstehen, warum ein Stück | |
Kleidung so verletzend und beschämend ist, ja meist gerade diejenigen sind, | |
die sich über Hidschabs und Burkinis echauffieren, als gäbe es kein Morgen. | |
5 Jun 2016 | |
## AUTOREN | |
Saskia Hödl | |
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