# taz.de -- Kolumne Cannes Cannes: Eine deutsche Komödie | |
> „Toni Erdmann“ erregt Aufsehen. Völlig zu Recht. So schön gelacht wird | |
> selten in Kinos, noch dazu bei einem deutschen Film. | |
Bild: Schauspieler und Regisseurin freuen sich auf das Screening von „Toni Er… | |
Die Filmfestspiele von Cannes haben ihren ersten Höhepunkt. Und er kommt | |
aus Deutschland. Eventuelle nationale Befangenheit hin oder her, Maren Ade | |
ist mit „Toni Erdmann“ eine anarchische Komödie gelungen, die mit | |
überbordender Freude an Situationskomik völlig ernste Fragen über das Leben | |
im Allgemeinen verhandelt, und zwar so, dass man aus vollem Herzen lachen | |
kann, ohne dass der Erkenntniswert oder anderes darunter leiden müsste. | |
Tatsächlich hört man im Kino selten derart befreites kollektives Gelächter | |
wie bei der Vorführung am Freitagabend. Maren Ade erreicht das nicht mit | |
Klamauk um seiner selbst willen, sondern durch genaues Beobachten ihrer | |
Charaktere – der verbissenen Unternehmensberaterin Ines (Sandra Hüller) | |
einerseits und ihres Vaters Winfried (Peter Simonischek), einem | |
melancholischen Klavierlehrer, anderseits. | |
Allein schon dieses antagonistische Paar ist einen Preis wert. Doch auch | |
wie diese Geschichte einer Einübung in Lebensfreude in Zeiten der | |
gnadenlosen Effizienz entwickelt wird, ist so stringent und dabei scheinbar | |
beiläufig erzählt, dass man aus dem Staunen kaum herauskommt: Wie Ade eine | |
hochkomische Szene gegen Ende des Films noch immer weiter eskalieren lassen | |
kann, indem sie eine absurde Konstellation – es geht, um nicht zu viel zu | |
verraten, um ver- und entkleiden – konsequent durchspielt, das ist | |
allerhöchste Kunst. | |
Sogar am nächsten Tag konnte man noch von Kollegen euphorisch nach „Toni | |
Erdmann“ gefragt werden, sobald man sich als deutscher Journalist zu | |
erkennen gegeben hatte. Zu Recht: Chancen auf den besten Film hat dieser | |
Beitrag allemal. | |
## Vorhersehbare Wendungen | |
Weniger preisverdächtig schien dagegen Park Chan-wooks erotischer Beitrag | |
„The Handmaiden“. Der koreanische Regisseur hat mit seiner Verfilmung des | |
Romans „The Fingersmith“ von Sarah Waters einen nicht uninteressanten Stoff | |
gewählt – lesbische Liebesgeschichte als Emanzipation von | |
SM-Altherrenphantasien. Allerdings verliebt sich dieser im Korea der | |
dreißiger Jahre angesiedelte Kostümfilm ein wenig zu sehr in seine leicht | |
plüschig-parfümierte Ausstattung. Auch die schön verschachtelte Handlung | |
mit dreifachem Betrug erzählt Park Chan-wook nicht immer elegant, sodass | |
einige Wendungen vorhersehbar werden. | |
Dann doch lieber weniger ambitioniert, dafür solide gearbeitet. Ebenfalls | |
aus Korea stammt der konkurrenzfrei gezeigte Horrorfilm „Train to Busan“ | |
von Yeon Sang-ho. Der läuft ganz schnörkellos auf seine Katastrophe zu: | |
Nach einem Fabrikunfall lösen freigesetzte Gase eine Epidemie aus, bei der | |
die Menschen – wie so oft im Film – zu Zombies werden und die Fahrgäste | |
eines Zugs drangsalieren. | |
Die Zombies dienen in diesem Fall keinem Selbstzweck, sondern fungieren als | |
– etwas plumpe – Gesellschaftskritik. Einer der Reisenden (Gong Yoo) ist | |
nämlich Fondsmanager, einer, „der den Leuten das Blut aussaugt“, wie ein | |
anderer Mitreisenden bemerkt. In der Folge wird das anfangs blütenweiße | |
Hemd des Unternehmers denn auch deutlich rot eingefärbt. Die begrenzten | |
Bewegungsmöglichkeiten, die sich für das Drehen in einem Zug bieten, nutzt | |
Yeon Sang-ho geschickt zum Spannungsaufbau in einer ausweglosen Situation, | |
während die Zombies durch aggressiv zuckende Körperbewegungen für sich | |
einnehmen. Besonders gelungen: ein Zombie-Bambi. | |
Echten Schrecken widmete sich der Schriftsteller Jonathan Littell in seinem | |
gleichfalls außer Konkurrenz präsentierten Dokumentarfilm-Debüt „Wrong | |
Elements“ über die ugandische „Lord's Resistance Army“ (LRA), die rund | |
60.000 Kindersoldaten rekrutierte. Überlebt hat lediglich die Hälfte von | |
ihnen. Die Zahl der Opfer der LRA unter ihrem bis heute versteckt im Busch | |
lebenden Anführer Joseph Kony werden auf 100.000 geschätzt. | |
Littell porträtiert ehemalige Zwangsrekrutierte, die von ihren Erfahrungen | |
mit der LRA berichten, wie sie zum ersten Mal bei Massakern töteten, oder | |
als Mädchen von älteren Soldaten der Armee sexuell misshandelt wurden. | |
Irritierend ist, wenn die jungen Menschen lachend über Töten und Tod | |
sprechen. Dabei wird aber schnell deutlich, dass es ihnen keineswegs am | |
nötigen Ernst fehlt. Vielmehr ist das Sprechen über die Gewalt, die ihnen | |
selbst mit ihrer Verpflichtung zu unbedingtem Gehorsam angetan wurde, bei | |
vielen ein erster Anlauf, um sich dieser Wunde wieder zu stellen. | |
Ein wenig entspannen konnte man sich mit Andrea Arnolds Wettbewerbsfilm | |
„American Honey“. Die in den USA lebende Britin lässt eine junge Frau aus | |
kaputter Familie auf eine ungestüme Drückerkolonne treffen, mit der sie | |
quer durch das Land zieht und am wilden, ungezügelten, zugleich | |
unerbittlich auf Profit ausgerichteten Leben der Gruppe teilnimmt. Der Film | |
entfaltet eine kaum zu bändigende Energie, liest am Wegesrand immer wieder | |
poetische Bilder auf – Insekten an Fensterscheiben, streifende Blicke in | |
den Himmel –, und bleibt stets nah an seinen Protagonisten, mit oft | |
unruhiger Handkamera, die Arnold virtuos einsetzt. Ein so zärtlicher wie | |
unsentimentaler Blick auf den Underbelly der USA. | |
15 May 2016 | |
## AUTOREN | |
Tim Caspar Boehme | |
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