# taz.de -- Cannes-Gewinner „American Honey“: Poetische Bilder, offene Frag… | |
> Die britische Regisseurin Andrea Arnold portätiert in ihrem neuen Werk | |
> Außenseiter. Sie zeigt eine gespaltene US-amerikanische Gesellschaft. | |
Bild: Sasha Lane in ihrer Laienrolle als Star kommt Shia LaBeouf ganz nah | |
Irgendwann liegt das eingeschweißte Tiefkühlhähnchen auf dem Küchenboden in | |
einer Lache aus Eigenblut. Der kleine Sohn, mit dem Star (Sasha Lane) | |
vorher nach essbaren Lebensmitteln im Industrieabfall gesucht hatte, | |
benutzt das tote Tier erst als Fußball und hackt dann mit einer Gabel so | |
lange darauf ein, bis der Eigensaft des Huhns im Licht der Nachmittagssonne | |
schimmert. Man kann den Geruch einer frühen Verwesung förmlich bis in den | |
Kinosaal riechen. | |
Es sind solche Szenen voll widersprüchlicher Sinnlichkeit, die das Werk der | |
britischen Regisseurin Andrea Arnold auszeichnen. Sie hat nun zum ersten | |
Mal in den USA gedreht, einem Land, das sie als „komplizierten Ort voller | |
Wahrheiten und Widersprüche“ bezeichnet und in „American Honey“ beinahe | |
drei Stunden lang so auch schildert. Schon in ihrem vielgelobten zweiten | |
Langfilm „Fish Tank“ (2009) spielten Tiere eine symbolträchtige Rolle, auch | |
dort landet ein gefangener Fisch schließlich auf dem Boden der Küche. | |
Die Poesie der Bilder, die in „American Honey“ regelmäßig die narrative | |
Logik oder überhaupt eine stringent erzählte Geschichte ersetzt, ist wohl | |
auch das, was die umstrittene Jury des diesjährigen Filmfests von Cannes | |
dazu veranlasste, Andrea Arnold bereits zum dritten Mal mit dem Preis der | |
Jury auszuzeichnen. Im Mittelpunkt des Films steht Star, eine schwarze | |
Kindfrau mit Dreadlocks, deren „dumpster diving“ im Müll der | |
Überflussgesellschaft zu Beginn des Films überdeutlich ihren sozialen | |
Status markiert. Star ist Mutter zweier weißer Kinder, deren Vater der Film | |
durch Dosenbier in der Hand und einer unter Rassisten und Rechtsextremen | |
beliebten Konföderierten-Flagge an der Wand charakterisiert. So viel zu den | |
Widersprüchen. | |
Als Star einer Gruppe junger Neo-Punks begegnet, die in einer Shoppingmall | |
bis zum Rausschmiss ausgelassen zu Rihanna tanzen, betritt Jake (Shia | |
LaBeouf), eine Mischung aus schlitzohrigem Hippie und charmantem | |
Mikro-Rebellen, die Bühne. Der nicht eben subtile Liedtext dazu auf der | |
Tonspur: „We found love in a hopeless place“. Im Tausch gegen Armut, | |
Familie und festen Wohnsitz schließt sich Star der „mag crew“ an, deren | |
sonderbar archaisches Leben darin besteht, als ZeitschriftenvertreterInnen | |
von Stadt zu Stadt zu fahren, um einer in der Regel gut betuchten Klientel | |
mit viel Charme und noch mehr Psychologie ihre Abos anzudrehen. „Die Leute | |
wollen etwas von mir, und es ist meine Aufgabe, herauszufinden, was das | |
ist“, erklärt Jake den Job. Nach Feierabend müssen die erfolglosesten | |
VerkäuferInnen auf dem Parkplatz des Motels gegeneinander symbolische | |
Kämpfe austragen. | |
Um Wahrheit oder – weniger pathetisch ausgedrückt – um die authentische | |
Schilderung eines Milieus ist es Andrea Arnold in ihren Filmen schon immer | |
gegangen. Als Kind einer vaterlosen Arbeiterfamilie hatte es Arnold in | |
„Fish Tank“ oder ihrem Debütfilm „Red Road“ (2006) bereits äußerst | |
feinfühlig verstanden, Menschen, deren Leben in dysfunktionalen Familien | |
von Armut, Gewalt und Härte bestimmt sind, Konturen zu verleihen, anstatt | |
sie in Klischees erstarren zu lassen. | |
## Schatten und Unschärfen | |
Ihre Methode hierfür könnte man als Immersion bezeichnen, denn Arnold | |
lernte die Bewohner der Sozialbauten in London und Glasgow, in denen ihre | |
Figuren leben, selbst kennen. Sie entwickelte Geschichten, die allgemeine | |
Meinungen zur Arbeiterklasse und Menschen am sozialen Rand verkomplizieren | |
oder relativieren konnten. | |
Großen Anteil daran hat Kameramann Robbie Ryan, der seit dem | |
oscarprämierten Kurzfilm „Wasp“ (2003) mit Andrea Arnold zusammenarbeitet. | |
Die Schatten, Unschärfen und Lichtspiele, mit denen seine Kamera auch in | |
„American Honey“ die Außenseitergeschichten bebildert, wirken nicht selten | |
dokumentarisch und sind oft von großer Spontaneität geprägt. | |
Die vor Energie strotzenden Szenen der wilden Partys der „mag crew“, ihre | |
oft banalen Unterhaltungen im Kleinbus auf den endlosen Highways der USA, | |
die ungeschnittenen Nahaufnahmen der intensiven Sexszenen – all das trägt | |
zur Dynamik eines Films bei, dem man anmerkt, dass er unbedingt authentisch | |
sein möchte und dem es nichts ausmacht, dass sich seine musikuntermalten | |
Abenteuer ab einem gewissen Punkt in Wiederholungen erschöpfen. Noch ein | |
Rap-Song, dessen Lyrics wortwörtliche Zustandsbeschreibung der Jugendlichen | |
liefern, noch ein poetisches Bild im Gegenlicht und noch ein Tiermotiv, das | |
etwas erzählen oder einfach nur sehr schön aussehen möchte. | |
## Authentisch und in kurzer Zeit gedreht | |
In acht Wochen und mit zahlreichen auf der Straße gecasteten | |
LaiendarstellerInnen (wie der 19-jährigen Hauptdarstellerin Sasha Lane) | |
gedreht, ist „American Honey“ ein weiterer Beweis dafür, dass das Interesse | |
an möglichst unmittelbaren filmischen Porträts einer „verlorenen Jugend“ | |
der USA nicht abreißt. Angefangen bei Klassikern wie Nicholas Rays „. . . | |
denn sie wissen nicht, was sie tun“ von 1955 über Larry Clarks „Kids“ | |
(1995) bis hin zu Harmony Korines „Spring Breakers“ (2012) scheint Amerikas | |
Problemjugend nach wie vor ihr eigenes relevantes Genre zu produzieren. | |
In gewisser Hinsicht passt es auch in das mediale, postfaktische Zeitalter | |
der Kim Kardashians und Donald Trumps (welche beide im Film Erwähnung | |
finden), dass die von Andrea Arnold zitierten „Wahrheiten und Widersprüche“ | |
des Landes selbst in der filmischen Form Ausdruck finden beziehungsweise in | |
ihrer Gegensätzlichkeit immer mehr verschwimmen. | |
Was für eine Form der Authentizität können diese authentischen | |
DarstellerInnen, die im Abspann auf einer Stufe mit der Regisseurin genannt | |
werden, denn liefern? Repräsentieren sie als Darsteller ihrer selbst eine | |
Generation obdachloser Ausgestoßener, selbst wenn Arnold an anderer Stelle | |
zugibt, dass der Drogenkonsum, dem sie unter ihnen begegnet ist, eigentlich | |
viel krasser und dramatischer ist, als sie es zeigt? Ist es ein sensibler | |
Kunstgriff oder einfach nur inszenatorische Naivität, eine schwarze | |
Hauptdarstellerin (in einer Gruppe weißer Jugendlicher) in einem von einer | |
Renaissance rassistischer Gewalt geprägten Land nicht ein einziges Mal | |
direkt mit dem Thema „Race“ konfrontiert zu sehen? (Anders machte es Arnold | |
in ihrer brillanten Neuinterpretation von Emily Brontës „Wuthering | |
Heights“, in der die Figur des Heathcliff schwarz ist.) Ist das | |
Lebensgefühl dieser Jugendlichen nicht vielmehr eine Behauptung als ein | |
Abbild einer real existierenden Subkultur? Erliegt Arnold diesmal nicht | |
einfach nur der Faszination dieser coolen Rebellen, anstatt ihre | |
Geschichten angemessen zu fiktionalisieren? | |
„American Honey“ porträtiert oft uneindeutig und vage eine in vielerlei | |
Hinsicht gespaltene US-amerikanische Gesellschaft. Doch scheint hier ein | |
kritischer Geist durch, denn die Gemeinschaft der Ausgestoßenen, die der | |
Film zeigt, ist trotz aller Rand- und Widerständigkeit der Figuren in ein | |
neoliberales Leistungsmodell eingegliedert. Selbst wenn du ein junger Punk | |
bist, musst du liefern, könnte das Credo hier lauten. Und selbst wenn die | |
poetische Bildsprache des Films manchmal Antworten zu geben scheint, sind | |
es doch die offenen Fragen, die nach dem Filmbesuch nachhallen und | |
glücklicherweise zum Nachdenken anregen. | |
12 Oct 2016 | |
## AUTOREN | |
Toby Ashraf | |
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