# taz.de -- Architekturbiennale von Venedig: Wie wir leben wollen | |
> Die 15. Biennale steht im Zeichen von Flucht, Migration, Verstädterung | |
> und sozialem Bauen. Der deutsche Pavillon dort überzeugt nicht. | |
Bild: Prototyp von Aravenas Sozialbauten. Quinta Monroy, Iquique, Chile, 2004, … | |
„Reporting From the Front“ – Alejandro Aravena hat einen zugespitzten Tit… | |
für seine Architekturschau 2016 in Venedig gewählt. Und das ist gut so. Die | |
offensiv an die Teilnehmenden herangetragene Erwartung – „berichtet von der | |
Front, den architektonischen Lösungen und sozialen Konflikten unserer | |
Welt!“ – verleiht Aravenas Biennale eine kaum zu ignorierende | |
Dringlichkeit. Und sie gibt der riesigen Schau auf dem Gelände von Arsenale | |
und Giardini trotz aller formalen Heterogenität eine immer wieder | |
aufnehmbare diskursive Struktur. | |
Das macht sich bereits beim Intro des chilenischen Architekten und | |
diesjährigen künstlerischen Direktors der Biennale an beiden | |
Ausstellungsstandorten positiv bemerkbar. Um in die Hauptgebäude von | |
Giardini und Arsenale zu gelangen, durchqueren die Besucher zunächst Räume, | |
in denen Pritzker-Preisträger Aravena den Müll der letztjährigen | |
Kunstbiennale verbauen ließ. Von dieser waren 10.000 Quadratmeter | |
Rigipsplatten- sowie 14 Kilometer Aluständerschrott übrig geblieben. | |
Nun werden sie zur sozialen Skulptur. Im Arsenale hängen die Aluträger wie | |
dickes Lametta von der Decke. Die Seitenwände sind mit dem zerkleinerten | |
und reliefartig aufgeschichteten Material der Rigipsplatten verkleidet. Das | |
sieht gut aus, verbreitet fast eine sakrale Aura. Mit eingebaut sind kleine | |
Bildschirmstationen. Die beschleunigt abgespielten Videoaufnahmen zeigen | |
Arbeiter beim Auf- und Abbau des Trockenbaus. Aravena thematisiert so den | |
immensen Material- und Arbeitsaufwand der großen Schauen. | |
Es ist der Auftakt zu einer Biennale, die – wie schon der „Common Ground“ | |
von David Chipperfield 2012 in Venedig – Funktionalität, Stilbewusstsein, | |
Nachhaltigkeit und eine klassenübergreifende Partizipation künstlerisch und | |
diskursiv miteinander verbinden will. Aravena ist dabei mehr der Initiator | |
als der tonangebende Bestimmer aller Gestaltung. | |
International bekannt wurde der 1967 in Santiago geborene Architekt durch | |
seine unkonventionelle Interpretation des sozialen Wohnungsbaus in Chile. | |
Er baut aber ebenso für große Institutionen und internationale Firmen. In | |
Chile entwickelte er zunächst sehr erfolgreich für kleines Geld seriell | |
anspruchsvolle Reihenhaustypen. Deren Charakteristika ist es, dass sie nur | |
zur Hälfte fertig gebaut und ausbaufähig sind. Die künftigen Bewohner | |
sollen je nach Bedürfnis und Möglichkeit ihre Häuschen einmal erweitern und | |
auch die Optik mitbestimmen können. | |
## Hommage an den Architekten und Schriftsteller Max Frisch | |
Aravena versetzt so Besitzlose in den Stand von kleinen Häuslesbauern, die | |
als Bauherren weitere Perspektiven für die Zukunft entwickeln. Auch | |
Weiterverkauf und Geschäftemachen der sozial geförderten Häuschen ist | |
erlaubt. Den Niedergang vieler der einst gefeierten modernistischen | |
Großanlagen des sozialen Wohnungsbaus führen Aravena und andere vor allem | |
auf das staatliche Bevormunden zurück, den Mangel an Möglichkeiten von | |
Partizipation und Eigeninitiative der Bewohner. | |
In den Hallen auf dem Arsenale sowie im Ausstellungspalast des Giardini | |
machen Installationen, Modellbauten, Fotografien und Videos beispielhaft | |
auf verschiedene urbane Entwicklungen aufmerksam. Vom Zelt bis zum | |
Hochhaus: Aravenas Biennale bietet jede Menge aktuelles | |
Anschauungsmaterial, temporäre Räume, nomadische Pavillons, modulares | |
Bauen, Konstruktionen aus recyceltem oder verrottbarem Material, | |
Architektur in der Landschaft. Aber auch für bewusste und robuste | |
Interventionen in die natürliche Umgebung. | |
Sie huldigt an einer Stelle dem Schweizer Architekten und Schriftsteller | |
Max Frisch und zitiert dessen „Appell von Hoffnung und Widerstand“ aus dem | |
Jahre 1981. Und sie führt symbolisch eine Fotografie Maria Reiches in ihrem | |
zentralen Veranstaltungsplakat. Es zeigt die 1998 verstorbene deutsche | |
Archäologin in Peru, in der Wüste bei Nazca. | |
Die Forscherin ging 1932 nach Peru und widmete ihr spartanisches Leben der | |
Wissenschaft. Reiche, auf einer Leiter stehend, sah einiges besser als ihre | |
Zeitgenossen. Die Nazca-Linien, angelegt um 800 bis 200 vor Christus, | |
stellen, wie man aus der Luft erkennen kann, großformatige Tierfiguren dar. | |
Reiche half sie zu entschlüsseln. | |
Poetisch subtil und in seiner künstlerischen Umsetzung stringent zeigt sich | |
auch eine zurückgenommene Installation im abgedunkelten Raum des | |
chilenischen Gastlandes auf dem Arsenale selbst. Auf zerknautschtes | |
Material, abgerissene Teile von Wellblechdächern, welche in der Dunkelheit | |
zunächst wie verwittertes Holz aussehen, werden unterschiedliche Videofilme | |
projiziert. Bilder und Farben sind von einer eigentümlichen Wärme. | |
Sie dokumentieren das Leben in der chilenischen Countryside: Hier reitet | |
ein Campesino durchs Bild, dort wird Wäsche gewaschen. Ein Hund bellt, | |
Hühner gackern. Die Chilenen präsentieren so das Projekt „Against The | |
Tide“. Architekturstudenten waren aufs Land geschickt worden, um gemeinsam | |
mit den dort Lebenden verschiedene Projekte zu entwerfen und zu realisieren | |
(im Verlag Hatje Cantz ist hierzu ein Katalog erschienen, ebenso die | |
Neuauflage von Aravenas „Elemental“). | |
## Home is where my Wi-Fi is | |
Einige der Länderpavillons folgen auf eher schlichte Weise Aravenas Ruf | |
nach einem „Report von der Front“. Die Uruguayer hauten ein Loch in den | |
Boden ihres Pavillons im Giardini. Ob sie dadurch tiefere Erkenntnisse | |
gewonnen haben? Verschlossen und nationalistisch die Russen. Ihr Pavillon | |
verbreitet eine stickige Atmosphäre von Retrokitsch, Stalinbarock, Lenin- | |
und Raketenbildern. | |
Doch viele beziehen sich produktiv auf das Motto des künstlerischen | |
Direktors Aravena. Wie auch die Spanier, die für ihren Pavillon in Venedig | |
ausgezeichnet wurden. Ihre Positionen setzen bei der ökonomischen Krise des | |
Landes an, improvisieren und verbinden diese mit ökologischen | |
Fragestellungen. Die Briten wiederum widmen sich konsequent den | |
innenausstatterischen Möglichkeiten eines kostengünstigen, funktionalen und | |
modularen Bauens – „home is where the Wi-Fi is“. | |
Und die Kuratoren des brasilianischen Pavillons stellen nicht nur ihre | |
neuen öffentlichen Bauten vor. In einer kleinen Fotoserie zitieren sie das | |
Werk Lina Bo Bardis, die versuchte, Umgebung, Mensch, Moderne und lokale | |
Traditionen in der Architektur miteinander zu versöhnen. Eine frühe und | |
wegweisende partizipative Praxis. | |
Bei den Länderpavillons von Finnen, Deutschen oder Österreichern stehen die | |
neuen Fluchtbewegungen und Migrationen im Vordergrund. Auffällig bei | |
Deutschen wie Österreichern: Zwar wird vollmundig für Migranten und | |
Flüchtlinge agiert, aber es gibt kaum eine aktive Beteiligung aus den | |
entsprechenden Herkunftsmilieus in Venedig. | |
Dabei ist Migration hier ja nicht gerade ein neues Phänomen. Im | |
Österreich-Pavillon gibt es Migranten als Bilder auf Postern zum Mitnehmen, | |
zum Aufhängen für zu Hause. Bei all dieser Nichtpartizipation und | |
Romantisierung verblasst, dass die alpenländischen Freunde der offenen | |
Gesellschaft auch aktuell realisierte Flüchtlingsunterkünfte in Venedig | |
vorstellen. | |
Es ist ein langer Weg bis nach Hause und bis zu irgendeiner | |
Selbstverständlichkeit. Oder gar Widersprüchlichkeit. So platzten Peter | |
Cachola Schmal und seine Entourage vom Deutschen Architekturmuseum aus | |
Frankfurt (DAM) im Deutschen Pavillon fast vor Stolz. War es ihnen doch | |
baurechtlich gelungen, das historische Gebäude der Deutschen zum Wasser und | |
in den Park hin öffnen zu lassen. Ein Hoch auf Statiker und Denkmalschutz. | |
Doch wie der DAM-Boss die Wandöffnungen als Sinnbild für Einwanderungsland | |
und Offenheit auszudeuten begann, wirkte in seiner Didaktik ermüdend. | |
## Der venezianische Libanese im Deutschen Pavillon | |
Und Kokuratorin Anna Scheuermann hörte sich bei der Pressekonferenz im | |
Deutschen Pavillon an, als hätte sie in ihrer „Ankunftsstadt“ Offenbach | |
Indianer entdeckt. Dabei leben dort deutsche Deutsche und Eingewanderte | |
seit Jahrzehnten zusammen. Ein Miteinander gibt es dort schon, manchmal | |
auch mit Problemen. Nicht aber im Deutschen Pavillon von Venedig, wo man | |
dafür tatsächlich einen venezianischen Libanesen aufgetrieben hat, der | |
jetzt Ayran ausschenken darf. | |
An den Wänden kleben ethnizistisch wirkende Fotografien, flankiert von | |
schulmeisterlichen Phrasen: „Die besten Schulen sollten in den | |
schlechtesten Vierteln sein, um die Kinder zu qualifizieren.“ Neben der | |
nichtssagenden Fotografie des Innenraums eines Gebetshauses die | |
Wandaufschrift: „Die Mevlana-Moschee in Offenbach ist das Zentrum eines | |
wachsenden türkischen Netzwerkes. Sie befindet sich in einer ehemaligen | |
Schreinerei.“ Da kommen wir jetzt aber aufgeklärt aus Venedig zurück. | |
Auch wenn das DAM eine Datenbank für Flüchtlingsbauten angelegt hat und | |
einzelne Beispiele davon in Venedig präsentiert, im partizipativen Sinne | |
ist der deutsche Beitrag misslungen. Doug Saunders spannendes Reportagebuch | |
von 2011, „Arrival City“, auf nackte propagandistische Thesen zu reduzieren | |
und ohne eigene sozial-künstlerische Erzählung in ein deutsches | |
Ausstellungskonzept zu überführen, ist intellektuell zu dürftig. | |
Das Katalogbuch zu „Making Heimat. Germany, Arrival Country“ hilft | |
ebenfalls nicht weiter. Es pflegt den verbrauchten Charme der | |
Antigestaltung, enthält Plakatseiten mit Botschaften, wie sie auch an den | |
Gemäuern des deutsche Pavillons zu finden sind: „Die Arrival City ist | |
bezahlbar. Günstige Mieten sind eine Voraussetzung für die Attraktivität | |
einer Stadt.“ | |
Hier ausgestellt werden? Dann doch eher nein danke! Dabei beziehen sich die | |
Deutschen ausdrücklich auf Aravena. Sie widmen Abbildung und Vorstellung | |
seiner chilenischen Sozialbauten immerhin eine Ecke. Das scheint aber ein | |
partizipatives Missverständnis. | |
30 May 2016 | |
## AUTOREN | |
Andreas Fanizadeh | |
## TAGS | |
Venedig | |
Architektur | |
Biennale Venedig | |
Venedig | |
Biennale Venedig | |
Migration | |
Lesestück Meinung und Analyse | |
Literatur | |
„Islamischer Staat“ (IS) | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
17. Architekturbiennale in Venedig: Große Träume im leeren Raum | |
Die 17. Architekturbiennale in Venedig startet am Samstag in digitaler Form | |
und als begehbare Ausstellung. Bis zum 21. November läuft das Festival. | |
16. Architekturbiennale in Venedig: Geraubter Raum | |
Die Architekturbiennale in Venedig hat ihre Tore geöffnet. Die Frage nach | |
den Chancen für soziale Freiräume ist das zentrale Thema. | |
57. Internationale Biennale von Venedig: Wo Kunst und Recht zusammentreffen | |
Eine Bastelstube, juristische Beratung für Flüchtlinge, schlafende Künstler | |
und Damenunterwäsche. Ein Biennale-Rundgang. | |
Verleihung der Goethe-Medaille: Göööte, Göööte, Göööte | |
Das Goethe Institut hat Mittler zwischen Deutschland und der Welt | |
ausgezeichnet. Die Vergabe stand unter dem Motto „Migration der Kulturen“. | |
Schlacht um Wien, Schlacht um Europa: Die Lust am Zerstören | |
In Österreich will ein Ausländerfeind zum Bundespräsidenten gewählt werden. | |
Die Neue Rechte in ganz Europa fühlt sich im Aufwind. | |
Schriftstellerin über Ex-Jugoslawien: „Den Hass nicht akzeptieren“ | |
Die Autorin Jelena Volić pendelt zwischen Belgrad und Berlin. Sie erzählt | |
von ihren Krimis, Diskriminierung und der Rückkehr von getrockneter | |
Paprika. | |
Europa gegen den Terrorismus: Vom Primat des Politischen | |
Über die Existenzvoraussetzungen des alten und des neuen Terrorismus. Oder | |
wie sich der Dschihadismus am effektivsten bekämpfen lässt. | |
Archtitekturbiennale in Venedig: Partizipationsmodelle in Beton | |
Die Architekturbiennale besticht durch ihre Offenheit für soziale Fragen | |
und steckt auch die teilnehmenden Länder mit ihrem „Common Ground“ an. |