# taz.de -- Neuregelungen von Hartz IV: Rechtswidrig und doch gültig | |
> Sozialministerin Andrea Nahles will die Nachzahlung von zu niedrigen | |
> Jobcenter-Leistungen erschweren – unter anderem. | |
Bild: Endstation Jobcenter | |
FREIBURG taz | Die Korrektur von rechtswidrigen Hartz-IV-Bescheiden soll | |
weiter eingeschränkt werden. Das plant Sozialministerin Andrea Nahles | |
(SPD). Anfang April hat Nahles einen Gesetzentwurf zur | |
„Rechtsvereinfachung“ von Hartz IV vorgelegt. Auf 112 Seiten sind unzählige | |
hochkomplexe Änderungsvorschläge enthalten, die das Recht sicher nicht | |
einfacher machen. Am Montag hört der Sozialausschuss des Bundestags dazu | |
Experten an. Ein Vorschlag wird dort besondere Beachtung erhalten, nachdem | |
„Report Mainz“ jüngst berichtete, „wie Andrea Nahles Arbeitslose um ihre | |
Rechte bringen will“. | |
Dabei geht es um ein Besonderheit des Sozialrechts, die sogenannten | |
Überprüfungsanträge. Sozialbescheide können nicht nur binnen einem Monat | |
mit dem üblichen Widerspruch angegriffen werden, sondern auch noch Jahre | |
später. Wenn die Behörde das Recht falsch angewandt hat oder von einem | |
falschen Sachverhalt ausging, muss der Bescheid rückwirkend aufgehoben | |
werden. Die Behörde muss zu wenig bezahlte Leistungen bis zu vier Jahre | |
lang nachzahlen. | |
Bei Hartz-IV-Anträgen ist dies schon jetzt nur eingeschränkt möglich. So | |
muss nur ein Jahr lang Geld rückwirkend nachgezahlt werden. Und wenn sich | |
der Bescheid als rechtswidrig entpuppt, weil die angewandte Norm | |
verfassungswidrig war oder die Rechtsprechung eine Verwaltungspraxis | |
beanstandet hat, dann ist eine Korrektur nur für die Zukunft möglich. Die | |
Behörde durfte auf die Norm oder ihre einheitliche Verwaltungspraxis | |
vertrauen. | |
Das Bundessozialgericht (BSG) hat allerdings 2011 ein Urteil gesprochen, | |
das diese Einschränkung weitgehend leerlaufen ließ. Eine neue ständige | |
Rechtsprechung soll nur dann die rückwirkende Nachzahlung verhindern, wenn | |
die Behörden die alte Rechtslage bundesweit einheitlich angewandt haben. | |
Das ist praktisch nie der Fall, jedenfalls schwer zu beweisen. | |
Deshalb will Nahles nun dieses BSG-Urteil aushebeln und nur noch auf die | |
einheitliche Rechtspraxis des zuständigen Jobcenters abstellen. | |
## „Freibrief für offenen Rechtsbruch“ | |
Das gebe jedoch den einzelnen Jobcentern „einen Freibrief für offenen | |
Rechtsbruch“, kritisiert Harald Thomé von der Wuppertaler | |
Erwerbslosenberatung Tacheles. Das Jobcenter könne einfach eine | |
rechtswidrige Rechtsauslegung konsequent durchziehen und so die | |
rückwirkende Korrektur verhindern. Ob die Jobcenter die neue Norm wirklich | |
so böswilig anwenden werden und ob die Sozialgerichte dies mitmachen, ist | |
aber zumindest fraglich. | |
Doch es gibt noch eine zweite Änderung, die Nahles erst Anfang Mai in einer | |
„Formulierungshilfe“ für die Koalitionsfraktionen nachreichte. Danach | |
sollen Bescheide, in denen das Jobcenter angeblich zu viel gezahlte | |
Leistungen von den Betroffenen zurückfordert, nur noch vier Jahre lang | |
überprüft werden können. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts | |
gilt derzeit eine Frist von 30 Jahren. Relevant ist dies, weil solche | |
Erstattungsbescheide häufig falsch sind. Zu schnell wird von | |
Hartz-IV-Empfängern Geld zurückverlangt, ohne Ermessen auszuüben. Das Geld | |
wird mit den nächsten Leistungen verrechnet, sodass der Hartz-IV-Satz | |
weiter schrumpft. | |
Immerhin ist die Korrektur auch künftig noch binnen vier Jahren möglich, | |
was ja keine ganz kurze Zeit ist. Und außerdem könnte jeder | |
Hartz-IV-Empfänger auch routinemäßig gegen jeden Erstattungsbescheid | |
Widerspruch einlegen und klagen, damit er in der Behörde und vor dem | |
Sozialgericht überprüft wird – mit großen Erfolgsaussichten. Wenn das die | |
Folge der Gesetzesänderung wäre, hätte Nahles keine Entlastung von Behörden | |
und Gerichten erreicht. | |
30 May 2016 | |
## AUTOREN | |
Christian Rath | |
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