| # taz.de -- Psychologe über digitalen Kulturwandel: „Zeig doch mal“ | |
| > Kinder verbringen angeblich zu viel Zeit am Computer. Der Psychologe | |
| > Georg Milzner warnt vor Hysterie und rät Eltern, mitzuspielen. | |
| Bild: So ein bisschen Daddeln hat noch niemandem geschadet | |
| taz: Herr Milzner, wir sind Eltern, und wir brauchen es konkret: Wie lange | |
| dürfen Ihre Kinder am Rechner sitzen? | |
| Georg Milzner: Das hängt davon ab, inwiefern sie auch noch Zeit für ihre | |
| Freunde haben, Zeit für Bewegung oder Sport. | |
| Starre Regeln bringen nichts? | |
| Sie ergeben vor allem dann keinen Sinn, wenn man etwa festlegt, dass nach | |
| einer halben Stunde abgestellt werden muss. Gerade bei Games erlebt man | |
| sonst häusliche Dramen. Die Kinder sind häufig mitten in einer Sinneinheit | |
| unterwegs. Wenn sie da raus müssen, dann wird das als widersinnig erlebt – | |
| ungefähr so, als müssten sie beim Lesen eines spannenden Buches in der | |
| Mitte des Kapitels aufhören, statt es schnell zu Ende zu lesen. | |
| Wie bemessen Sie denn, ob Ihr Kind das, was Sie in Ihrem neuen Buch | |
| „Digitale Hysterie“ als „Mischkost“ bezeichnen, an einem Tag auch wirkl… | |
| gemacht hat? | |
| Die erste Regel ist: Es wird nicht gespielt, bevor die Hausaufgaben gemacht | |
| sind. Die zweite: Ich bringe mich selbst mit ein, ich frage zum Beispiel: | |
| Womit hast du denn heute gespielt? Zeig doch mal. Wenn ich den Eindruck | |
| habe, das Übergewicht ist zu groß in Game-Hinsicht, dann biete ich selbst | |
| etwas an und komme mit einem Pinsel oder mit Legosteinen oder so etwas. | |
| Wenn Eltern ein Miteinander anbieten, sind Kinder meistens ganz gerne | |
| dabei. | |
| Das Klischee besagt eher, dass es Jugendlichen gar nicht so gut gefällt, | |
| wenn man sich in ihren Bereich einmischt. | |
| Jugendliche haben ein natürliches Bedürfnis nach Abgrenzung. Und wenn man | |
| sich vorher schon gewissermaßen als der mediale Feind zu erkennen gegeben | |
| hat, dann ist die Chance, sich bei Jugendlichen noch einzuklinken, denkbar | |
| gering. Aber die Affinität zu diesen Dingen, die beginnt ja früher, im | |
| Grundschulalter. MarioKart zum Beispiel ist ein gutes Einstiegsspiel für | |
| Familien, weil man sich dabei auch noch viel bewegt. | |
| Haben Eltern in Doppelverdienerhaushalten dafür wirklich Zeit? | |
| Aus meiner Sicht ist das Computerproblem in allererster Linie ein | |
| Beziehungsproblem. Wenn Kinder immer weniger Bezug zu einer guten Autorität | |
| erleben, dann ist die Gefahr relativ groß, dass sie in der medialen Welt | |
| verwahrlosen. | |
| Was bedeutet „gute Autorität“? | |
| Das meint Eltern, die sich dafür interessieren, was ihre Kinder am Rechner | |
| tun, aber ihnen eben auch Grenzen setzen und vor allem: ansprechbar sind. | |
| Dass das im Moment ein schwieriges Modell ist, gesamtgesellschaftlich | |
| gesehen, das leuchtet mir ein. | |
| Warum ist der Ton in Deutschland so schrill, wenn es um den Umgang von | |
| Jugendlichen mit Computern und dem Internet geht? | |
| Ein Teil meines Buches zielt auf diese künstlich aufgeheizte Angst vieler | |
| Eltern und Erzieher. Aber ich bin auch nicht ganz auf der Seite der | |
| Medienpädagogen. Da wird oft eine völlig kritiklose Verbreitung aller | |
| möglicher Games postuliert. Ich sehe mich dazwischen, als jemand, der zur | |
| Ruhe mahnt und versucht abzuwägen: Wo liegen denn die wirklichen Risiken? | |
| Ich glaube, dass wir einen Kulturwandel von gewaltigem Ausmaß haben und die | |
| Debatten darüber, dass unsere Kinder und Jugendlichen immer dümmer und | |
| dicker, immer süchtiger und aggressiver werden, Rückzugsgefechte sind. | |
| Viele dieser Debatten haben wir ja schon einmal geführt. Als es um Bücher, | |
| Comics oder Fernsehen ging. | |
| Ganz genau. Viel heikler sind aus meiner Sicht andere Dinge. Zum Beispiel | |
| die Neuverteilung der Aufmerksamkeit, erkennbar an dem, was man | |
| Aufmerksamkeitsstörung nennt. Etwa wenn ständig Nachrichten empfangen | |
| werden, Jugendliche ihren Netzverbindungen nachgehen, statt sich auf das | |
| Geschehen vor ihnen zu konzentrieren. Man könnte die Art von Jugendlichen, | |
| damit umzugehen, aber auch als Anpassungsleistung an unterschiedliche | |
| Erfordernisse zur selben Zeit deuten. | |
| Wenn es um den Zusammenhang zwischen Medien und Gewalt geht, gibt es für | |
| jede mögliche Positionierung Studien, die völlig konträre Positionen | |
| bestätigen. Wie sinnvoll ist es, hier ständig eine Untersuchung auf die | |
| nächste zu türmen? | |
| Wenn wir zum Beispiel in Manfred Spitzers „Digitaler Demenz“ hinten mal | |
| gucken, dann führt er da Hunderte Studien an. Aber das ergibt nur Sinn, | |
| wenn Sie wissen, wie viele es überhaupt gibt. Dann wissen Sie nämlich, was | |
| er alles weggelassen hat. Dass man mit Studien im Grunde alles belegen | |
| kann, kann man besonders gut an der Gewaltdebatte sehen: Da gibt es | |
| Studien, die von Empathieabstumpfung sprechen, es gibt Hinweise darauf, | |
| dass ein Amokläufer Egoshooter gespielt hat – aber andererseits sind die | |
| Egoshooter so verbreitet, dass man auch nicht sagen kann, dass aus jedem | |
| Spieler ein Amokläufer wird; und es gibt den Hinweis, dass man mit | |
| gewalttätigen Spielen sogar Dampf ablassen und damit mögliche | |
| Gewaltneigungen abarbeiten kann. Das Einzige, was sich daraus wirklich | |
| ergibt, ist: Die Studien liefern keinen nennenswerten Beitrag zu dem Thema | |
| Gewalt – keinen jedenfalls, der sich nicht durch eine andere Studie gleich | |
| wieder aufheben ließe. | |
| Sie zitieren den italienischen Lyriker Andrea Zanzotto: „Das Kind findet | |
| sich bereits in der Zukunft.“ Ist denn in dieser ganzen Debatte auch eine | |
| Abneigung der Eltern gegen das Kind zu verspüren, weil das, was das Kind | |
| selbstverständlich beherrscht, den Eltern bedrohlich erscheint? | |
| Was Eltern vor allem fehlt, sind Referenzerfahrungen: Sie erleben, dass die | |
| Kinder etwas machen, was sie selbst nie getan haben. Wenn sie einen Sohn | |
| haben, der fünfzehn ist, kann es ihnen gut passieren, dass der irgendwann | |
| mal betrunken nach Hause kommt. Das werden sie mehr oder weniger entspannt | |
| kommentieren, wenn sie sich erinnern, wie alt sie selbst waren, als sie | |
| ihren ersten Vollrausch davontrugen. Wenn sie jetzt einen 12-Jährigen | |
| haben, der 12 Stunden in der Woche Minecraft spielt, dann haben sie zu | |
| Minecraft keine Beziehung. Die Ästhetik ist ihnen fremd, sie haben selbst | |
| kein Gefühl dafür, wie sich das anfühlt, sie beobachten das Ganze besorgt, | |
| weil sie es tatsächlich nur anhand von sogenannten Expertenurteilen | |
| einschätzen können. Und die gehen eben zum großen Teil in die negative | |
| Richtung. | |
| Die Sachsen, die keine muslimischen Nachbarn haben, fürchten den Islam – | |
| und wer genau hat Angst vor dem Computer? | |
| Wer ihn nicht oder wenig nutzt. Die, die das gute Buch lesen und sich nicht | |
| auseinandersetzen mit der Pop- und der Trashkultur. Wenn Sie das erste Mal | |
| anfangen, ein Spiel Ihres Kindes zu spielen, dann merken Sie, wie schlecht | |
| Sie sind. Die Kinder sind viel besser. Sie selbst machen am Anfang nur | |
| frustrierende Erfahrungen. Ein Germanistikprofessor kann Effi Briest | |
| auseinandernehmen und Goethe auswendig – aber im Computerspiel mit seinen | |
| Kindern fängt er wieder ganz unten an. Das kann nur Unlust erzeugen. Durch | |
| diese Unlust kommen Sie nur, wenn Sie souverän sind. | |
| Analog dazu ihre Bemerkung, dass Grand Theft Auto 5 gefährlicher ist als | |
| ein Spiel, in dem es rein um das Abschießen von Panzern geht. | |
| GTA 5 ist hochkomplex, das ist ein Spiel wie ein Tarantino-Film. Das hat | |
| hässliche Gewalt. Und es hat Folterszenen. Und wenn ich jetzt öfter | |
| mitbekomme, dass Kinder mit elf, zwölf Jahren das schon spielen, dann würde | |
| ich sagen: Das wird dem Kind Schaden zufügen. Es wird Dinge sehen, die es | |
| in seinem Alter entweder noch nicht verarbeiten kann, oder die es nur | |
| verarbeiten kann, wenn es künstlich härter und damit stumpfer wird. Ich | |
| beobachte, dass Kinder vermehrt Zugang zu solchen Spielen bekommen – und | |
| zwar unabhängig davon, ob in einfacher strukturierten Familien oder in der | |
| Oberschicht. | |
| Sie beschreiben Erwachsene als recht ahnungslos. Aber gibt es jetzt nicht | |
| zunehmend Eltern, die selbst Erfahrung mit Computerspielen haben? Müsste es | |
| nicht langsam mehr Kompetenz geben? | |
| Der Abstand zwischen Eltern, Erziehern und den Heranwachsenden ist sehr | |
| groß. Bis da eine neue Generation feldbestimmend wird, werden noch ein paar | |
| Jahre ins Land gehen. | |
| Wie macht man es denn nun richtig mit der digitalen Erziehung? | |
| Eltern fangen am Besten bei sich an, indem sie lernen, Ambivalenz | |
| auszuhalten: Was mir fremd ist, ist für meine Kinder ihre Zukunft – also | |
| werde ich versuchen, sie dabei zu unterstützen, so gut ich kann. Außerdem | |
| reden wir zu viel über Medienkompetenz und zu wenig über Selbstkompetenz: | |
| Die Kinder brauchen ein Gefühl dafür, wann sie zum Beispiel Kopfschmerzen | |
| bekommen könnten. Oder wann sie eigentlich inzwischen schon ein anderes | |
| Bedürfnis aufbauen als das, was sie gerade befriedigen. Sie brauchen ein | |
| Gefühl dafür, welche Beziehungen ihnen wichtig sind. Diese Selbstkompetenz | |
| müssen Eltern in ihren Kindern stärken – das bringt mehr als jedes Verbot. | |
| 28 May 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Meike Laaff | |
| Ambros Waibel | |
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