# taz.de -- Psychiater über Kinder und Mediennutzung: „Die Dinos bleiben sch… | |
> Digitale Medien beeinflussen das Spielverhalten von Kindern immer | |
> stärker. Psychiater Oliver Dierssen kann das täglich in seiner Praxis | |
> beobachten. | |
Bild: Oliver Dierssen, Kinder- und Jugendpsychiater, in seiner Praxis | |
taz: Herr Dierssen, als Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie setzen | |
Sie sich täglich mit Kindern und auch deren Mediennutzung auseinander. Was | |
beobachten Sie? | |
Oliver Dierssen: Seit fünfzehn Jahren setze ich mich mit Kindern | |
auseinander. In meiner Praxis habe ich immer Spielsachen liegen. Jeden Tag | |
kommen Eltern mit ihren Kindern, häufig Grundschulkindern und mehr Jungen | |
als Mädchen. Normalerweise sind Kinder expansiv, bewegen sich viel und sind | |
neugierig. Das ist ein normales Erkundungsverhalten. Ich bin gewohnt, dass | |
Kinder beim Betreten des Büros direkt zur Ritterburg gehen und damit | |
spielen. Dann rede ich zuerst mit den Eltern und komme später zu den | |
Kindern an den Spielsachen. Das hat sich aber deutlich geändert, spätestens | |
seit der [1][Lockdownzeit]. Seitdem ist das fantasievolle Spiel an der | |
Ritterburg weniger geworden, sodass ich mir aus der Not heraus eine zweite | |
Burg zum Spielen zugelegt habe, diesmal mit mehr Actionfiguren. Doch viele | |
Kinder sind bereits im Wartezimmer am Handy zugange, während Bücher und | |
Spielsachen ausgeblendet werden, die zeigen dort häufig kein | |
Erkundungsverhalten mehr. Später, in den Gesprächen, sind sie überfordert. | |
Manche trauen sich auch nicht an die Ritterburg, und wenn doch, spielen sie | |
nur kurz und sind schnell gelangweilt. Neben der Burg gibt es auch noch | |
Autos, Dinosaurier und weitere Spielsachen. Die Dinos bleiben schon lange | |
im Schrank. | |
taz: Haben Sie diese Verhaltensveränderungen auch schon vor dem Lockdown | |
bemerkt? | |
Dierssen: Ich bin seit 2015 in der Praxis tätig und stelle erst seitdem | |
Beobachtungen an. Man muss den Rückgang des Spielverhaltens nicht zwingend | |
auf den Lockdown beziehen, sondern kann sich auch die Frage stellen: Welche | |
Generation ist mit dem Handy aufgewachsen? Das Thema, das in allen | |
Elternberatungen auftaucht, sind elektronische Medien. Darum geht es immer. | |
Bei Mädchen betrifft es mehr Social Media, bei Jungs mehr das Zocken | |
taz: Welche Mechanismen fesseln die Kinder und Jugendlichen an Handyspiele? | |
Dierssen: Wir können uns dafür konkret ein Spiel ansehen, das an allen | |
Schulen präsent ist: „Brawl Stars“. Spiele dieser Machart hatten wir | |
bereits in den späten 80er Jahren. Was anders ist: Das Belohnungssystem der | |
Kinder wird durch dieses Spiel massiv und in allen Modalitäten | |
angesprochen. Durch das Blinken, die Geräusche und die konstante | |
Verstärkung ist das Spiel sehr raffiniert programmiert. Man wird | |
ununterbrochen für etwas belohnt. Schon nach dem Starten des Spiels gibt es | |
oft eine Belohnung. Es gibt immer etwas zum Entdecken, wodurch die Kinder | |
nicht mehr zum Durchatmen kommen. Ständig gibt es Effekte, Geräusche und | |
Dinge zum Einsammeln. Das führt in meiner Interpretation zu einer | |
vollkommenen Überstimulierung. Das Gehirn lernt neuroplastisch, dass die | |
Aufmerksamkeitsspanne kürzer sein kann und es doch noch belohnt wird. | |
Dadurch werden längere Lernprozesse deutlich schlechter. | |
taz: Haben die Eltern dann nicht die Verantwortung, den Konsum ihrer Kinder | |
zu kontrollieren und sich mit den Inhalten der Spiele auseinanderzusetzen? | |
Dierssen: Ja, das sehe ich so. Wichtig ist, zu schauen, welche | |
Informationen den Eltern vorliegen. Früher wurde im Auto mit geschlossenem | |
Fenster geraucht. Das machen heutzutage natürlich weniger Eltern, weil es | |
mehr Informationen darüber gibt, wie schädlich das ist. Ich bin praktisch | |
orientiert. Deswegen halte ich die Eltern dazu an, ein Spiel wie „Brawl | |
Stars“ mindestens eine Stunde selbst zu spielen und darauf zu achten, was | |
das mit ihnen macht. Die Eltern müssen sich nach der Selbsterfahrung die | |
Frage stellen, ob sie ein solches Dauerfeuer für ihr Kind möchten. | |
taz: Inwiefern sehen Sie dann auch eine Verantwortung bei den | |
Gesetzgeber:innen und den Konzernen hinter den Spielen? | |
Dierssen: Das ist eine schwierige Frage. Ich sehe, dass viele Firmen die | |
Forschung und wissenschaftlichen Erkenntnisse dazu nutzen, die Kinder zu | |
den Spielen hinzuführen. Die Erkenntnisse werden also zum Nachteil der | |
Kinder bewusst eingesetzt. Diese Spiele entwickeln sich durch den Markt und | |
die Nachfrage automatisch dorthin, wo der stärkste Belohnungsanreiz ist. | |
Eine Regulation von so etwas ist sehr schwer. Es mag ethische | |
Verpflichtungen zur Selbstregulierung geben, aber ich sehe nicht, dass sich | |
diese Algorithmen ändern. Dass aktuell in Australien beschlossen wurde, | |
Social Media erst ab sechzehn Jahren nutzen zu dürfen, ist natürlich nicht | |
durchsetzbar, aber es zeigt, dass in diesen Medien Gefahren wohnen. Ich | |
finde das einen smarten Schachzug. So könnte man auch manche Spiele | |
altersmäßig begrenzen. | |
taz: Wie könnte ein verantwortungsvoll designtes Spiel aussehen, das den | |
Kindern nicht schadet und den Firmen dennoch Profit bringt? | |
Dierssen: Das kann ich nur durch meine kleine Sichtweise betrachten. Ich | |
sehe schon, dass auch Spiele wir „Fortnite“ einen Gewinn bringen können, | |
wie zum Beispiel den sozialen Zusammenhalt unter Freund:innen. Viel stärker | |
ist der Nutzen noch in [2][„Minecraft“], wo man gemeinsam bauen und | |
Projekte umsetzen kann. Die Spiele, die eine unverhältnismäßige | |
Belohnungserwartung schüren, sind das Problem. Die Kinder machen bei dem | |
Spiel kurz mit und erwarten direkt eine Gegenleistung. In der Schule, wenn | |
eine Aufgabe in einem Buch erledigt wird, kommt in der Regel keine | |
Belohnung. Auch beim Spielen mit Playmobil ist der Belohnungsanreiz viel | |
geringer. Aber ein Spiel sollte die Kreativität und die Freiheit in den | |
Vordergrund stellen. „Brawl Stars“ mag alles Mögliche sein, aber sicher | |
nicht fantasievoll. Die Fantasie ist dort sehr zweidimensional, nämlich: | |
Welchen Charakter nehme ich und wo laufe ich entlang? Ein Spiel sollte die | |
Kreativität und die Freiheit in den Vordergrund stellen. | |
taz: Was braucht es, damit Eltern ihre Kinder besser schulen können im | |
Umgang mit Spielen? | |
Dierssen: Natürlich setzen Eltern ihre Kinder auch vor die Geräte, weil sie | |
selbst weniger Zeit und eine hohe Belastung haben. Viele Eltern in unserer | |
Praxis sind am Anschlag und haben wenig Erholungszeit. Es ist leicht zu | |
sagen, dass die Eltern dann noch genau nach den Kindern sehen müssen. Dazu | |
brauchen wir auch Lebens- und Arbeitsbedingungen, wo das realistisch ist. | |
Insofern sind nicht nur die Kinder ein Stück weit verloren, sondern auch | |
die Eltern. Es braucht also einen gesellschaftlichen Wandel, in dem Spiel- | |
und Zeiträume entstehen können. Eltern müssen so leben und arbeiten, dass | |
Zeit für die Kinder bleibt. | |
28 Dec 2024 | |
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Martin Seng | |
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