# taz.de -- „Schwulenparagraf“ 175: „Wunde unseres Rechtsstaats“ | |
> Tausende Opfer des bis 1969 gültigen Naziparagrafen sollen rehabilitiert | |
> werden. Das sagt ein Rechtsgutachten der Antidiskriminierungsstelle des | |
> Bundes. | |
Bild: Viele Opfer des Naziparagrafen gelten bis heute als vorbestraft | |
BERLIN taz | Das Thema selbst ist in der rechtswissenschaftlichen | |
Diskussion seit Langem präsent, in die politische Debatte des Mainstreams | |
ist es nun auch eingesickert: Die Rehabilitierung der Opfer des | |
[1][Paragrafen 175 Strafgesetzbuch in der Bundesrepublik zwischen 1949 und | |
1969]. | |
Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes hatte es bei Martin Burgi, | |
Rechtsprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, in | |
Auftrag gegeben. Nun ist es veröffentlicht worden. [2][Christine Lüders, | |
Leiterin der Antidiskriminierungsstelle, schreibt in ihrem Vorwort]: „Das | |
ist eine offene Wunde unseres Rechtsstaates, die unbedingt geheilt werden | |
muss.“ | |
Worum geht es genau? Erstens um politisch beabsichtigte menschliche | |
Tragödien in den nachnationalsozialistischen Jahren mit Gründung der BRD im | |
Jahre 1949. Und zweitens um einen rechtswissenschaftlichen Grundsatz: | |
Sprüche des Verfassungsgerichts können weder kassiert werden noch kann im | |
Nachhinein etwas für straflos erklärt werden, was zum Zeitpunkt der Taten | |
nicht legal war. | |
Konkret: Zwar wurde von den alliierten Befreiern im Westen Deutschlands | |
verlangt, alle Gesetze zu stornieren, die spezifisch | |
nationalsozialistischen Gehalt hatten. Die Todesstrafe etwa musste | |
abgeschafft werden. Bei der Verfolgung schwuler Männer allerdings legten | |
die neuen Parteien mit der Union an der Spitze Wert darauf, dass sie | |
erhalten bleibe. In der Weimarer Republik habe es schließlich auch einen | |
Strafparagrafen gegen homosexuelle Männer gegeben. | |
Allerdings blieb die vom NS-Staat verschärfte, entgrenzende Fassung des | |
Paragrafen in der Bundesrepublik in Kraft. Die „warmen Brüder“ galten als | |
widernatürlich und jugendgefährdend. Bis zur Legalisierung von männlicher | |
Homosexualität – weibliche war in der BRD nie illegal – 1969 wurden ebenso | |
viele schwule Männer angezeigt, angeklagt, verurteilt und in Haft genommen | |
wie zwischen 1933 und 1945: Die Verfolgungsintensität – von KZ-Inhaftierung | |
abgesehen – hatte im Vergleich mit dem NS-Staat nicht nachgelassen. | |
## Entschädigungsanspruch wird erarbeitet | |
Verfassungsrechtlich ist eine Rehabilitierung freilich schwierig – Aufsätze | |
von Wissenschaftlern wie Thomas Henne (Uni Luzern) und Rüdiger Lautmann | |
(Berlin) unterstrichen dies in den vergangenen Jahren. Eine Initiative der | |
Linksfraktion im Bundestag 2008 befruchtete die Debatte zwar erneut. Aber | |
das Problem blieb: Was mal illegal war, kann eigentlich im Nachhinein nicht | |
für den vergangenen Zeitraum legalisiert werden. Und: Ein Verfassungsurteil | |
wie in den fünfziger Jahren, das die Wiedergutmachung für erlittenes | |
Unrecht während der Nazizeit ablehnt, weil Schwule kein spezifisches | |
Unrecht erlitten hätten, kann nicht kassiert werden. | |
Martin Burgi nun referiert auf über 100 Seiten die Geschichte des § 175. | |
Und schlägt vor, alle Urteile zu stornieren, weil die Opfer dieser | |
Strafvorschrift auf Grundlage von Nazirecht verfolgt worden seien. Das sei | |
ein Verstoß gegen Menschenrechte. | |
„Die Bundesregierung und der Bundestag haben nun Rechtssicherheit, um | |
handeln zu können“, kommentiert Jörg Litwinschuh, Vorstand der | |
Bundesstiftung Magnus Hirschfeld, die von ihm mit initiierte Studie. Sie | |
zeige auf, „dass für die Aufhebung der bis 1969 gefällten Urteile geradezu | |
eine verfassungsrechtliche Legitimation besteht“. | |
In einer Stellungnahme kündigte Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) am | |
Mittwoch an, die Regierung werde nun einen Gesetzentwurf zur Aufhebung von | |
§-175-Verurteilungen sowie einen daraus entstehenden Entschädigungsanspruch | |
erarbeiten. „Diese Schandtaten des Rechtsstaats werden wir niemals wieder | |
ganz beseitigen können, aber wir wollen die Opfer rehabilitieren.“ | |
11 May 2016 | |
## LINKS | |
[1] /Abschaffung-des-Paragrafen-175/!5040340/ | |
[2] http://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/Downloads/DE/publikatio… | |
## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
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