# taz.de -- Muslima als Landtagschefin in BaWü: Das Gesicht der Mitte | |
> Die grün-schwarze Landesregierung steht. Kein Kabinettsmitglied hat | |
> Migrationsgeschichte. Dafür gibt es eine alevitische Landtagschefin. | |
Bild: Ein starker Akzent: Muhterem Aras, Tochter einer Analphabetin, ist neue L… | |
Berlin taz | Als sie neulich um die Mittagszeit durch die Stadt gelaufen | |
ist, hat ein Fremder sie in die Arme geschlossen. Muhterem Aras war vom | |
Charlottenplatz unterwegs zum Stuttgarter Landtag, als ihr auf der Höhe der | |
Landesbibliothek der ältere Mann entgegenkam und sie anhielt. „Sie sind | |
doch Frau Aras.“ Er war griechischer Abstammung, Aras dagegen ist in der | |
Türkei geboren. Sie redeten ein bisschen. „Ich finde es toll, was sie | |
erreicht haben“, sagte der Mann. „Danke.“ | |
Aras, 50 Jahre alt und gerade mit 42,4 Prozent wiedergewählte | |
Grünen-Abgeordnete, kann mehrere solcher Erlebnisse erzählen. Sie wird | |
erkannt in ihrer Stadt. Damit hat sie viel erreicht. Menschen aus | |
Einwandererfamilien stecken in Deutschland immer noch in der politischen | |
Bedeutungslosigkeit fest. Wenn eine aber doch sichtbar wird, dann kann das | |
auch für andere ein Stück Sichtbarkeit bedeuten. | |
Insofern ist es eine kleine Revolution, was am Dienstag im Stuttgarter | |
Landtag geschehen ist. Die Grünen-Fraktion hat Aras als Landtagspräsidentin | |
nominiert. In einer fraktionsinternen Kampfabstimmung setzte sie sich gegen | |
die bisherige Vizepräsidentin Brigitte Lösch durch. Als stärkste Fraktion | |
hat die Kretschmann-Partei in Baden-Württemberg das Vorschlagsrecht für die | |
Chefin des Landtags. Am Mittwoch kann das Parlament Geschichte schreiben: | |
Wenn es die Muslimin aus Stuttgart [1][in dieses Staatsamt wählt]. | |
Der grün-schwarzen Regierung haben deren Chefs Winfried Kretschmann und | |
Thomas Strobl das Label des gesellschaftlichen Zusammenhalts gegeben. Im | |
Koalitionsvertrag heißt es: „Den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserem | |
Land wollen wir stärken.“ Aras nimmt sie beim Wort. „Wenn wir den | |
Zusammenhalt wollen, dann können wir mit dem Staatsamt einen Akzent setzen. | |
Ich bin aus der Mitte. Die Mitte ist vielfältig, die Gesellschaft ist | |
vielfältig. Sie wird zusammen halten.“ | |
## Die Mutter ist Analphabetin | |
Sie will das Zeichen. Aber natürlich will sie auch den Karrieresprung. Denn | |
Aras ist ehrgeizig. Den Drang nach Bildung und Aufstieg hat ihr die Mutter | |
eingeschärft, die bis heute Analphabetin ist. Muhterem Aras sagt, dass | |
einem alle Möglichkeiten offen stehen müssen. Dieses Prinzip lebt sie. Sie | |
burchstabiert es durch. Wer so eine Einstellung hat, dem muss es schief | |
vorkommen, dass auf dem grünen Personaltableau keine einzige Ministerin und | |
kein einziger Minister aus einer Einwandererfamilie kommt. | |
Aras stammt aus dem kleinen Ort Elmaağaç in der Nähe der Stadt Bingöl, | |
Ostanatolien, sie selbst sagt heute: ein Kuhdorf. Der Vater ist zuerst nach | |
Deutschland gegangen, zu Thyssen nach Filderstadt. Thyssen, ausgerechnet | |
das Unternehmen, dessen Umgang mit Gastarbeitern der Journalist Günter | |
Wallraff in seinem Buch „Ganz unten“ offenlegte. | |
Es war der einzige Bericht, in dem ein Millionenpublikum in den Achtzigern | |
den Alltag von Gastarbeitern zur Kenntnis kam, wie die taz-Kolumnistin und | |
Autorin Jagoda Marinić in ihrem gerade erschienen Essayband festgestellt | |
hat. Ein als Gastarbeiter verkleideter Deutscher erzählt den Deutschen von | |
den Migranten und nicht einer von ihnen selbst. | |
„Mein Vater war bei Thyssen zufrieden“, sagt Muhterem Aras. „Er war dort | |
angesehen.“ 1978 holt er die Familie nach. Fünf Kinder, drei Zimmer, 75 | |
Quadratmeter. | |
## Pucki, ein sehr deutsches Mädchen | |
Als die Mutter Gemüse auf einem Bauernhof im Ortsteil Sielmingen kaufen | |
will, wird sie hereingebeten. Die Macks, die Besitzer des Hofes, sind | |
offen. Sie laden die türkische Familie ein. Sie nehmen sie zum Schauen mit | |
in die Staatsgalerie und zum Essen mit ins Wienerwald. Die Kinder dürfen | |
den Tag über auf dem Hof sein, Muhterem schaut sich Actionfilme an, sie | |
liest die Bücher über Pucki, ein sehr deutsches Mädchen, das auf die Schule | |
kommt, dann auf die höhere Schule und am Ende glücklich wird. | |
Muhterem geht auf die Hauptschule, dann auf die Wirtschaftsschule, dann | |
aufs Wirtschaftsgymnasium. Fürs Studium nimmt sie einen Kredit über | |
60.000-Mark auf. Wenn sie ihr Leben erzählt, bekommt man eine Ahnung, wie | |
viel Kraft es gekostet hat, bis sie ihre eigene Steuerkanzlei mit zehn | |
Angestellten hatte. | |
Da ist zum Beispiel diese Geschichte: Einmal geht das Schulmädchen Muhterem | |
samstags einkaufen. Als sie an der Schule vorbeikommt, sieht sie, dass auf | |
dem Schulhof Kinder sind. Es ist purer Zufall, dass sie überhaupt erfährt, | |
dass jeden zweiten Samstag Schule ist, wie es damals in Baden-Württemberg | |
üblich war. | |
Die Familie ist alevitisch. Die Aleviten sind Anhänger einer liberalen Form | |
des muslimischen Glaubens. Aber wie gesagt: Sie kommen vom Dorf, da sind | |
die Sitten streng. Trotzdem dürfen Muhterem und ihre Geschwister sehr viel, | |
vorausgesetzt die Noten sind gut. Schullandheim, Schwimmen, Tanzkurs. Nur | |
einen Freund darf sie nicht haben. Als sie als Elftklässlerin ihren | |
heutigen Mann kennen lernt, schlägt sie den Eltern vor, ihn eben gleich zu | |
heiraten. Nach den Osterferien kommt sie mit einem neuen Namen in die | |
Klasse zurück. | |
## Sie kauft sich Pfefferspray | |
1992 ist das Jahr der rassistischen Ausschreitungen von | |
Rostock-Lichtenhagen. Sie geht abends seltener auf die Straße. Dann kauft | |
sie sich Pfefferspray. Du spinnst, sagt ihr Bruder. Da sucht sie sich eine | |
Partei, um zu zeigen, dass dieses Land auch ihr gehört und geht zu den | |
Grünen. | |
Die Grünen, sagt sie heute, sind offen. Sie hätten ihre Wahllisten früh | |
geöffnet für Leute, die anders heißen als Schmidt und Schulze. Es gibt Cem | |
Özdemir an der Parteispitze, Tarik Al-Wazir in der hessischen Regierung und | |
Ekin Deligöz in der Bundestagsfraktion. Aber so viele sind das auch wieder | |
nicht. Aras sagt trocken: „Die Grünen sind definitiv keine | |
Migrantenpartei.“ | |
Der Ehrgeiz treibt sie auch bei den Grünen nach oben. Kreisvorstand, dann | |
Kreischefin. Gemeinderat, dann Fraktionschefin. Landtagskandidatin, dann | |
bestes Ergebnis aller Grünen-Abgeordneten 2011. 2016 wird sie noch einmal | |
grüne [2][Stimmenkönigin]. Sie kann rechnen, kann taktieren, kann Leute auf | |
die Matte quatschen. Weil sie auf ihrem Beruf aufbauen möchte, wird sie | |
Finanzpolitikerin. | |
Die Integrationsdebatte kommt trotzdem zu ihr. 2015 tritt sie im Landtag | |
einem CDU-Mann entgegen, der herumfabuliert hat, es dürfe in Berlin ja nun | |
bald nicht mehr Weihnachtsmarkt, sondern nur noch [3][Wintermarkt] heißen. | |
Es ist Guido Wolf, der kurz vorher noch Landtagspräsident war. Die | |
Geschichte mit den Weihnachtsmärkten [4][stimmt nicht]. Aras nennt Wolfs | |
Verhalten „fahrlässig, gefährlich und verantwortungslos.“ | |
## Fast ganz oben | |
Nun wird sie Guido Wolfs früheres Amt bekommen. Sie wird nach dem | |
Ministerpräsidenten die wichtigste Repräsentantin des Landes sein: Fast | |
ganz oben. Aber als Parlamentspräsidentin muss sie vor allem Sitzungen | |
leiten. Das Reglement im Griff haben. Eingreifen, wenn die Fouls zu heftig | |
werden. Es ist die [5][Rolle einer Schiedsrichterin]. Sie muss mit der AfD | |
klar kommen, über die sie sagt: „Sie haben Tendenzen, sich an den Rändern | |
der Verfassung zu bewegen.“ | |
Allein ihre Anwesenheit wird etwas verändern. Ihre Sichtbarkeit. Wenn die | |
AfD-Politiker reden im Landtag, wenn sie wieder das große Gruseln | |
inszenieren vor der unbekannten, amorphen Masse von Muslimen, dann wird | |
hinter ihnen eine Muslimin sitzen. Muhterem Aras, eine sehr konkrete | |
Stuttgarterin, die ihre Geschichte selber erzählt. Eine, die für vieles | |
steht, aber vor allem für sich. | |
10 May 2016 | |
## LINKS | |
[1] /Kommentar-neue-Koalition-in-Ba-Wue/!5297320 | |
[2] http://statistik.stuttgart.de/wahlen/html/landtagswahl/2016/wahlkreise.html | |
[3] http://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.hitzige-debatte-im-landtag-geh… | |
[4] http://www.bildblog.de/62255/das-bams-maerchen-vom-weihnachtsmarktverbot/ | |
[5] http://www.landesrecht-bw.de/jportal/portal/t/azg/page/bsbawueprod.psml?pid… | |
## AUTOREN | |
Georg Löwisch | |
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