# taz.de -- Großreformentwurf für Behinderte: Autonomie und Gleichberechtigung | |
> Die Koalition will die Rechte Behinderter stark reformieren. Nun liegt | |
> ein erster Entwurf auf dem Tisch. Ein Aktivist spricht von einem | |
> „trügerischen Traum“. | |
Bild: Autonomie sieht anders aus | |
Berlin dpa | Seit Jahren warten Menschen mit Behinderung in Deutschland auf | |
einen Durchbruch für mehr Rechte. Nun soll es endlich so weit sein. Sie | |
sollen besser wählen können, wo und wie sie leben. Sie sollen Geld ansparen | |
können. Barrieren sollen abgebaut, Gleichberechtigung soll gestärkt werden | |
– das sind Ziele eines der großen sozialpolitischen Projekte, die die | |
Bundesregierung nun auf den Weg bringen will. Kann die Reform die | |
Versprechen einhalten? | |
Nach monatelangen Beratungen und Verhandlungen gibt es einen mehr als 360 | |
Seiten starken Entwurf für das Bundesteilhabegesetz aus dem | |
Bundessozialministerium ([1][Teil 1: .pdf], [2][Teil 2: .pdf]). Jetzt | |
sendete das Bundeskanzleramt das von Ressortchefin Andrea Nahles (SPD) | |
angestrebte grüne Licht für die weitere Abstimmung in der Regierung – ein | |
Kabinettsbeschluss und das weitere normale Gesetzesverfahren sollen folgen. | |
Für die Fachszene ist das nach Gezerre bis zuletzt schon ein Durchbruch. | |
[3][Mit 7,5 Millionen Menschen sind mehr als zehn Prozent der Bevölkerung | |
schwerbehindert.] Bis 2020 sind nun Mehrausgaben für den Bund von mehr als | |
1,5 Milliarden vorgesehen, für Länder und Gemeinden von 350 Millionen Euro. | |
Doch beim Geld ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Dazu soll in der | |
Regierung noch eine Runde gedreht werden, auch mit den Ländern war man sich | |
zuletzt nicht einig. | |
Geht es nach Ulla Schmidt, ist eine schnelle Einigung bitter nötig. Die | |
frühere Gesundheitsministerin ist heute Vizepräsidentin des Bundestags – | |
und Vorsitzende der Lebenshilfe, einer Vereinigung für Menschen mit | |
geistiger Behinderung. „Das Gesetz beschreibt Schritte hin zu einem | |
fundamentalen Umdenken“, sagt Schmidt. Die Eingliederungshilfe solle | |
schrittweise aus der Sozialhilfe geholt werden. Für Menschen mit | |
Behinderung sei das immens wichtig – sie wollten mehr Wahlrecht. „Sie | |
wollen selbst entscheiden, wo und mit wem sie leben, wo und wie sie | |
arbeiten wollen.“ | |
## Deutschland muss mehr tun | |
2015 stellten die Vereinten Nationen fest: Deutschland müsse mehr tun. Bund | |
und Länder koordinierten sich schlecht in dem Bereich. Nur 28 Prozent der | |
behinderten Schüler besuchten eine Regel- statt einer Förderschule. Eine | |
normale Arbeit jenseits spezieller Werkstätten zu finden, sei für viele | |
schwer. Leistungen zur Selbstbestimmung fehlten. | |
Angesetzt werden soll an mehreren Stellen. Die Ausgaben für | |
Eingliederungshilfe sind seit 2005 von 11,3 auf 16,4 Milliarden Euro | |
gestiegen. Trotzdem kann es zu Armut führen, wenn man behindert ist und | |
Eingliederungshilfe bezieht. Denn heute darf man nur 2.600 Euro besitzen – | |
alles andere wird angerechnet. | |
Auf bis zu 50.000 Euro soll die Schwelle in Stufen ansteigen, | |
Partnereinkommen sollen freigestellt werden. „Die Erhöhung weist in die | |
richtige Richtung“, sagt Ulrike Mascher, Präsidentin des Sozialverbands VdK | |
Deutschland. Doch ausreichend sei es nicht. Auch Schmidt meint, Ziel müsse | |
eine komplette Freistellung des eigenen Einkommens sein. | |
## Unterschiedliche Leistungen | |
Die Leistungen für Behinderte sind heute in den Bundesländern oft | |
unterschiedlich – und für die Betroffenen wenig übersichtlich. Oft müssen | |
sie von Hilfeträger zu Hilfeträger laufen – künftig soll einer | |
erstzuständig sein und die Anträge weiterleiten. Ein anderes Beispiel | |
betrifft den Schritt aus den geschützten Werkstätten in den ersten | |
Arbeitsmarkt. Er fällt vielen schwer. Ein „Budget für Arbeit“ für | |
Arbeitgeber soll helfen. Wer Betroffene einstellt, soll einen unbefristeten | |
Lohnkostenzuschuss erhalten. | |
Nicht alle Pläne stoßen bei Experten auf Zustimmung. Schmidt mahnt, dass | |
Betroffene den Anspruch auf Erwerbsunfähigkeitsrente nicht länger verlieren | |
dürften, wenn sie den Wechsel aus einer Werkstatt in einen regulären Job | |
wagen. Anderes Beispiel: Leistungen für Assistenten zur Mobilität dürften | |
nicht gepoolt werden. „Sonst müssen die Menschen immer warten, bis sie zum | |
Beispiel in die Stadt können.“ | |
Führt das nun auf den Weg gebrachte Gesetz wirklich zu handfesten | |
Verbesserungen? „Es dürfen uns keine Assistenzpersonen vorgeschrieben | |
werden, mit denen wir nicht einverstanden sind“, [4][betont etwa Uwe | |
Frevert von der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben]. „Dies verletzt | |
unsere Würde und unsere Intimsphäre.“ Ottmar Miles-Paul, der seit Jahren | |
für Rechte von Behinderten kämpft, sprach vor wenigen Tagen von „einem | |
trügerischen Traum“, dass Behindertenrechte umgesetzt würden. Er sah die | |
Zeit für verstärkte Proteste gekommen. | |
26 Apr 2016 | |
## LINKS | |
[1] http://dpaq.de/OiKMk | |
[2] http://dpaq.de/5hvAF | |
[3] https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Gesundheit/Behind… | |
[4] http://dpaq.de/LnQc3 | |
## AUTOREN | |
Basil Wegener | |
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