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# taz.de -- Flüchtlinge in Griechenland: Im Dorf der Wartenden
> Der Alltag im Lager von Idomeni nimmt Strukturen an: Es gibt kleine
> Läden, einen Friseur und eine provisorische Schule für Kinder.
Bild: In den improvisierten Klassenräumen sitzen die Kinder auf Bänken, die a…
Idomeni taz | Der Rauch kleiner Lagerfeuer zieht über die Zeltdächer des
Flüchtlingslagers von Idomeni und mischt sich mit dem Duft von frischem
Fladenbrot und Kaffee. Eine Frau sitzt vor ihrem Zelt, in dem zwei kleine
Kinder spielen, und formt Brotteig zu Fladen, die sie auf einem Blechdeckel
über einem Feuer backt.
„Das Chaos bekommt hier immer mehr Struktur“, meint Schojaa al-Khalil. Der
Syrer, 35 Jahre alt, ein großer Mann in Jeans und T-Shirt, sitzt mit seiner
Frau Hanan vor seinem Zelt schräg gegenüber und nimmt einen Schluck Kaffee.
Seit die Balkanroute geschlossen ist, hängen mehr als 10.000 Flüchtlinge in
dem wilden Lager an der Grenze zu Mazedonien fest.
Inzwischen hat es sich zu einem kleinen Dorf entwickelt. Immer mehr
Flüchtlinge funktionieren Zelte zu kleinen Läden um. Eier, Obst und Gemüse,
Konserven und Zigaretten gibt es da zu kaufen. Auch Fleischspieße und
Fladenbrote sind im Angebot. „Selbst einen Frisör, bei dem du dich auch
rasieren lassen kannst, gibt es hier“, al-Khalil lacht.
Auch er selbst hat Aufgaben gefunden, die ihm ein bisschen Alltag bringen.
„Ein bisschen Normalität“, sagt er, hält inne, schüttelt den Kopf. Nein,
Normalität könne man eigentlich nicht sagen, fügt er leise hinzu, eher eine
Struktur im Chaos.
## Der Kaffee brodelt in der Konservenbüchse
Es ist acht Uhr morgens. Schojaa al-Khalil hat ein kleines Feuer entfacht.
In einer leeren Konservenbüchse brodelt der Kaffee leise vor sich hin. Im
Zelt sitzen die noch schläfrigen Söhne Bahaa, fünf, Jussef, zwei, und die
Tochter Farah, acht Jahre alt.
Seit fast zwei Monaten lebt al-Khalil mit seiner Familie hier in Idomeni.
Sie kamen an, als die Grenze noch nicht ganz verriegelt war. Damals habe
die Polizei Nummern verteilt, um zu regulieren, wer wann die Grenze
überqueren kann. „Bis zu unserer Nummer ist es nicht mehr vorangekommen“,
sagt al-Khalil. Er presst seine Hände kurz flach aufeinander, so dass ein
schneidendes Klatschen entsteht. Wie es weitergeht? Er weiß es nicht.
Er wollte längst in Deutschland oder in einem anderen sicheren Land Europas
sein, das nicht so tief in der Wirtschaftskrise steckt wie Griechenland.
Denn er müsse schnell Geld verdienen. Er habe sich eine hohe Summe von
einem Freund geliehen. „Für die Flucht. Was sollte ich machen?“, fragt er
ins Leere.
Schojaa al-Khalil hat bis vor Kurzem in einem Dorf in der Provinz Daraa im
Südwesten von Syrien als Englischlehrer gearbeitet. „Wir hatten alles, was
wir brauchten“, sagt er. Im Rückblick kommt es ihm vor wie das Paradies.
„Ich unterrichtete in einer Schule, ein Dorf weiter.“ Nach der Arbeit habe
er immer einen kleinen Spaziergang gemacht, bevor er nach Hause ging. Er
hält inne.
## Ein Lehrer zwischen den Fronten in Syrien
„Dann wurde das Leben immer mühsamer“, sagt er stockend. Krieg. Er konnte
nicht mehr arbeiten, denn das Nachbardorf wurde von Präsident Assads Armee
kontrolliert, sein Dorf dagegen war von der aufständischen Freien Armee
besetzt. „An der Grenze musste ich jedes Mal deutlich machen, dass ich kein
Spitzel Assads bin“, sagt al-Khalil. Auf seinem Rückweg musste er wiederum
erklären, warum er denn die Feinde unterrichtet.
Es wurde immer gefährlicher. „Bomben und Raketen“, sagt seine Frau Hanan
plötzlich, die bisher still vor dem Zelt gesessen hat, in gebrochenem
Englisch. Sie reißt die Augen weit auf. Auch ihr Haus wurde getroffen. „Du
kannst nur auf die Flugzeug schauen und gucken, wo die Bombe einschlägt“,
sagt al-Khalil. „Du kannst nicht entkommen. Du schaust auf die Flugzeuge
und wartest auf deinen Tod.“ Sie hatten Glück. Sie entkamen. Und so
beschlossen er und seine Frau, mit den Kindern zu fliehen.
„Wir hatten ein Haus, ein Zimmer voller Spielsachen für unsere Kinder,
alles.“ Er macht ein paar wegwerfende Handbewegungen, zeigt auf die Decken,
die Hanan im Zelt sorgfältig zur Seite gelegt hat. Ja, Normalität. „Ich
vermisse unser Haus“, sagt Hanan leise.
Hier in Idomeni lebt die Familie in einem einfachen Zelt. Sie stehen jeden
Tag um halb acht auf, trinken einen Kaffee. Danach beginnt für al-Khalil
der Arbeitstag, wie er sagt. Er macht einen Rundgang und fragt bei den
Familien der umstehenden Zelten nach, was am nötigsten gebraucht wird. Er
holt eine Liste aus seiner Hosentasche und liest aus seinen Notizen vor.
„Pampers und Unterwäsche für die Nachbarin zwei Zelte weiter. Eine Jacke
und eine Hose für den Sohn der Familie dort hinten.“
## Immer wieder gehen Gerüchte im Lager um
Mit der Liste gehe er jeden Tag zu verschiedenen
Nichtregierungsorganisationenum zu melden, was dringend benötigt wird. Das
funktioniere ganz gut.
Der Alltag hier sei physisch erträglich; die Menschen überleben. Ärzte sind
da, und man verhungere nicht. Doch das Essen sei knapp und reiche manchmal
nicht für jeden. Es gebe kaum Obst und Gemüse, lässt Hanan ihren Mann
übersetzen. Das sei sehr schlecht für die Kinder. Die Straßenverkäufer
verlangten zu hohe Preise. Und ihnen gehe allmählich das Geld aus.
Viel schlimmer sei mittlerweile die psychische Belastung. Man bekomme kaum
Informationen und wenn, dann wisse man nie, was stimmt. „Es gehen so viele
Gerüchte um“, sagt al-Khalil. Wie vor knapp zwei Wochen, als gesagt wurde,
dass die Grenze doch wieder geöffnet werde.
Als den verzweifelten Menschen klar wurde, das sie einer Fehlinformation
aufgesessen waren, wollten sie den Grenzzaun einreißen. Die mazedonischen
Grenzsoldaten schossen mit Gummigeschossen und Tränengas. Das sei wie im
Krieg gewesen. „Und das hier“, sagt er leise. Ja, dieser Tag wird ihnen
hier allen in Erinnerung bleiben.
## Die Traumata sitzen tief
Al-Khalil schaut nach oben. Ein Hubschrauber kreist über dem Camp. „Ein
paar Tagen nach dem Vorfall an der Grenze flogen plötzlich ganz viele
Hubschrauber und Kampfflugzeuge über unseren Köpfen “, erzählt al-Khalil.
Die Menschen hier gerieten in Panik. Kinder schrien vor Angst. „Auch wir
waren geschockt, bis wir verstanden, dass das griechische Militär eine
Übung abhält“, sagt der Familienvater. Die traumatischen Kriegserlebnisse
der Flüchtlinge sitzen tief.
Plötzlich geht ein Leuchten über sein müdes Gesicht. „Jeden Tag um elf Uhr
gebe ich Englischunterricht im neuen Kulturzentrum von Idomeni.“ Er
lächelt. Vor knapp zwei Wochen hat das Zentrum eröffnet. Freiwillige
NGO-Mitarbeiter und Flüchtlinge haben es gemeinsam aufgebaut. Englisch,
Deutsch, Farsi und Kurdisch wird gelehrt. Es gibt aber auch Tanz- und
Kunstunterricht. Die Lehrenden sind sowohl Flüchtlinge als auch
HelferInnen.
Elf Uhr. Schon von Weitem sind die Kinderstimmen zu hören. Das Alphabet,
Zahlen – begeistert wiederholen die Kinder im Chor, was Lehrer al-Khalil
ihnen vorspricht. Die Bänke sind aus Holzpaletten zusammengezimmert, darauf
liegen graue Fleecedecken ausgebreitet. Etwa achtzig Kinder zwischen fünf
und elf Jahren haben sich in dem provisorischen Klassenraum niedergelassen.
Al-Khalil hat sich einen Bleistift hinters Ohr geklemmt. In der Hand hält
er einen schwarzen Marker, mit dem er das Alphabet auf ein Whiteboard
schreibt. Er scheint hier in dem provisorischen Klassenraum wie ein anderer
Mensch. Sein Blick ist klar und wach. Vor zwei Wochen kamen ein paar
NGO-Mitarbeiter auf ihn zu, um zu fragen, ob er hier unterrichten möchte.
„Ich sah es als meine Pflicht an, mitzumachen. Ich kann hier etwas
weitergeben, mich nützlich machen.“
## Flüchtlinge vergessen kurz die ausweglose Situation
Nachmittags und abends gibt er noch mal Unterricht, dann für Erwachsene.
„Ich glaube, die Schule gibt Struktur und Normalität“, meint er. Und
Normalität sei eines der wichtigsten Dinge im Leben, sagt er, während er
den Stift zur Seite legt und ein paar Decken ordnet. Die Kinder und auch
die Erwachsenen haben nun ein Ziel in diesem täglichen Chaos – etwas zu
lernen. Das Kulturzentrum sei ein Anhaltspunkt, ein internationales
Begegnungszentrum, sowohl für die Kinder als auch für die Erwachsenen.
Dort vergesse man für ein paar Stunden die ausweglose Situation: Man sitzt
mit seinen Kindern in Europa, das einen nicht will, und in der Heimat
herrscht Krieg. Die EU-Programme, die Familien zusammenführen und Familien
in Drittländer bringen sollen, funktionierten nicht, habe er von vielen
Freunden hier gehört, sagt Schojaa al-Khalil. Es gäbe zwar unterschiedliche
Hotlines, auch auf Skype – doch nie ginge jemand ran, oder es sei ständig
besetzt.
Er selbst hat noch nicht entschieden, ob er sich für das Asylverfahren
registrieren will. Er hält bisher weiter an seinem Ziel fest, doch noch
weiterzukommen. Er wache morgens mit der Hoffnung auf, dass Europa doch
noch eine Lösung für Menschen wie ihn finde. „Jeden Tag, jeden Tag das
Gleiche. Nie weiß man, was passiert“, sagt er, „aber ich gebe nicht auf.“
28 Apr 2016
## AUTOREN
Theodora Mavropoulos
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