# taz.de -- Sparmaßnahmen in Griechenland: Die Politik der Untätigkeit | |
> Die Koalition aus Syriza und Anel macht nur das Notwendigste. Flüchtlinge | |
> überlässt sie ihrem Schicksal, die Mittelschicht ist ruiniert. | |
Bild: Griechische Hafenarbeiter protestieren gegen den Verkauf des Hafens von P… | |
Athen taz | Der Victoria-Platz in Athen, einer der wenigen Orte im Zentrum | |
der Stadt mit einem Spielplatz für kleine Kinder, wird jeden Morgen von | |
Flüchtlingen besetzt. Die Polizei kommt und treibt sie weg. Am Abend | |
wiederholt sich dasselbe Spiel. In der Zwischenzeit ist das Klagelied von | |
Betreibern der Cafés, Restaurants und Imbissbuden zu hören. Zu Zeiten des | |
normalen Alltags waren die Lokale voll. Jetzt kommen fast kein Gäste mehr. | |
Am anderen Ende des Zentrums in Richtung Syntagma-Platz, im Hotel Hilton, | |
verhandeln die sogenannten Institutionen mit den Ministern der griechischen | |
Regierung. Bis zum zweiten Memorandum waren die Vertreter der Geldgeber zu | |
dritt, man nannte sie die „Troika“. Nun ist noch ein Vertreter | |
dazugekommen, so mutierten sie zum „Quartett“. Die „Troika“ war ein | |
neutrales Wort. Das „Quartett“ hat einen musikalischen Nachklang. | |
Doch ob Troika oder Quartett – der Druck auf alle griechischen Regierungen | |
für Reformen bleibt derselbe, auch auf die heutige Koalition aus Syriza und | |
Anel. | |
Ich kenne kein anderes Land, in dem es eine solche Kluft zwischen | |
öffentlichem Dienst und Privatsektor gibt. Griechische Beamte sind | |
privilegiert, und ausnahmslos alle Regierungen versuchen, ihre Klientel im | |
Staatsapparat vor den Reformen in Schutz zu nehmen. Die heutige Regierung | |
macht das nicht anders, weil sie im Staatsapparat ebenso verstrickt ist wie | |
ihre Vorgängerregierungen. Das System von Syriza im öffentlichen Dienst | |
besteht aus ehemaligen Pasok-Bonzen, die nach dem Fall der Pasok-Regierung | |
in die Syriza emigriert sind. | |
Die Vertreter der Geldgeber und die griechischen Regierungen einigen sich | |
seit Jahren auf dieselbe Kompromisslösung: weniger Reformen, dafür mehr | |
Sparmaßnahmen. Wenn die Griechen das Wort „Sparmaßnahmen“ nur hören, dann | |
wissen sie schon: Es kommen neue Steuern. | |
## Der Mittelstand des Landes ist längst ruiniert | |
Diese Wellen von Steuern haben den griechischen Mittelstand ruiniert. Die | |
griechische Wirtschaft wurde immer von kleinen und mittleren Unternehmen | |
und dem Tourismus getragen. Wenn diese kleinen und mittleren Unternehmen | |
und mit ihnen die Arbeitnehmer im Privatsektor aber konsequent ruiniert | |
werden – woher soll dann das Wachstum kommen, das sowohl die griechischen | |
Regierungen als auch die „Institutionen“ beschwören? | |
Die Europäische Union ist am Ruin des griechischen Mittelstands | |
mitschuldig, weil sie die Umsetzung der Reformen mit zu wenig Druck | |
eingefordert und stattdessen die von den griechischen Regierungen | |
bevorzugten hohen Steuersätze akzeptiert hat. Die noch überlebenden | |
griechischen Unternehmen verlegen ihren Sitz nach Bulgarien oder Zypern, wo | |
niedrigere Steuersätze gelten. | |
Es ist ein Trauerspiel. Ausnahmslos alle griechischen Regierungen | |
verstecken sich hinter der EU und schieben ihr die Schuld für das Elend der | |
Griechen in die Schuhe. Die EU ihrerseits versteckt sich hinter den | |
Griechen und behauptet, sie seien an den härteren Sparmaßnahmen schuld, | |
weil sie die Reformen nicht umsetzen wollen oder können. | |
Seien wir ehrlich: Diese Regierung ist weder rechts noch links. Sie ist | |
eine Regierung den Untätigkeit. Sie macht nur das Notwendigste, und auch | |
das verdirbt sie durch die unterschiedlichen Statements ihrer Mitglieder. | |
## Uneindeutige Statements | |
Ein Beispiel: Vor Kurzem verkaufte die Regierung die Mehrheit der Anteile | |
des Hafens von Piräus an das chinesische Staatsunternehmen Cosco. | |
Premierminister Alexis Tsipras drückte dem Vertreter der chinesischen Firma | |
die Hand und sagte vor laufender Kamera, dies sei nur der Anfang; es würden | |
noch mehr Investitionen fließen. Am nächsten Tag wendete sich der | |
Transportminister gegen den Verkauf der Anteile: das sei Ausverkauf | |
griechischen Staatseigentums. Wieder einen Tag später stimmte ihm der | |
Minister für Seehandel zu. Weder verlangte der Premier den Rücktritt seiner | |
beiden Minister, noch traten sie freiwillig zurück. Was blieb? Ihre | |
unterschiedlichen Statements. | |
Ähnlich reagieren die Regierungsmitglieder auf die Flüchtlinge. Der | |
Innenminister besucht das Lager in Idomeni, liefert seinen unverschämten | |
Kommentar: Das hier sei wie Dachau – und verlässt den Ort. Ein zweiter | |
Minister kommt, sein Kommentar lautet: Idomeni sei das Juwel griechischer | |
Gastfreundschaft. Auch er verlässt danach den Ort. | |
Nur der Vizeaußenminister hat eine brillante Idee. Welcher Flüchtling | |
250.000 Euro in Griechenland investieren möchte, bekomme sofort die | |
griechische Staatsbürgerschaft. Ganz Griechenland lacht, aber er beharrt | |
auf seinem Vorschlag. | |
Diese Regierung macht nur das Notwendigste. Viel lieber ist ihr, Statements | |
zur Lage im Land abzugeben. Sie ist stolz auf ihre Politik der offenen | |
Grenzen. Gut, dafür bin ich auch. Nur muss man für die Flüchtlinge auch | |
etwas tun, wenn sie kommen. Man kann sie ihrem Schicksal nicht einfach | |
überlassen – weder in Idomeni noch auf den Inseln noch in Piräus. | |
## Athen kämpft für Flüchtlinge | |
Die einzige Ausnahme ist die Stadt Athen mit ihrem Bürgermeister Jorgos | |
Kaminis. Die Stadt kämpft seit Monaten mit allen Mitteln dafür, den | |
Flüchtlingen zu helfen. Sie hat die ersten Unterkünfte für sie geschaffen, | |
sie bringt Familien mit Kindern in freien Wohnungen unter, versorgt sie mit | |
Essen. Ohne die Stadt Athen wäre die Lage noch desaströser. | |
Abgesehen davon kümmern sich nur einige NGOs um die Flüchtlinge – einige, | |
nicht alle. Es gibt auch welche, die Profit aus den Flüchtlingen schlagen | |
wollen, und andere, die die Flüchtlinge zu aussichtslosen Aktionen bewegen. | |
So versuchten vor einiger Zeit Flüchtlinge, den Zaun an der Grenze zu | |
Mazedonien niederzureißen. Es war die Idee radikaler Mitglieder einiger | |
NGOs. Die mazedonische Polizei reagierte mit Tränengas. Es gab rund 300 | |
Verwundete. Die griechische Polizei schaute zu, weil sie keine Genehmigung | |
zum Eingreifen hatte. | |
Die europäischen Staaten geben kein besseres Bild ab. Sie haben alle | |
Grenzen von Mazedonien bis Österreich geschlossen und Griechenland damit | |
zum Sammelbecken für Flüchtlinge gemacht. | |
In Zeiten des real existierenden Sozialismus gab es neben dem | |
„sozialistischen Traum“ auch den Begriff der „internationalen Solidaritä… | |
der zu jedem Anlass wiederholt wurde. Was haben die ehemals sozialistischen | |
Länder von dieser internationalen Solidarität mitbekommen? Von Ungarn über | |
Polen und Tschechien bis hin zu Slowenien schaue ich mich um und sehe nur | |
Mauern und Länder, die sich verschanzen oder die wie Polen nur christliche | |
Flüchtlinge aufnehmen wollen. Deutschland ist die einzige Ausnahme. | |
## Ein desaströses Land | |
Keiner kann den Griechen nachsagen, dass sie sich den Flüchtlingen | |
gegenüber schlecht benehmen. Sie haben ihnen vom ersten Tag an geholfen – | |
mit ihren spärlichen Mitteln, selbst von der Krise hart getroffen. Viele | |
haben sogar Familien mit Kindern aufgenommen, damit sie nicht im Regen | |
übernachten müssen. Diese Hilfsbereitschaft ist zugleich das beste Argument | |
für die griechische Regierung, ihre eigene Untätigkeit zu rechtfertigen. | |
Ich habe trotzdem Angst. Besonders auf den Inseln könnte die Stimmung | |
kippen, je näher der Sommer rückt. Denn die Inselbewohner leben vom | |
Tourismus. Sie arbeiten vier Monate und leben dann das ganze Jahr von | |
diesen Einnahmen. | |
Wie aber werden sie reagieren, wenn die Touristen den Inseln fernbleiben, | |
auf denen Flüchtlinge gestrandet sind? Werden sie die Flüchtlinge dafür | |
verantwortlich machen, dass sie ihre Einkommen einbüßen? Und wie lässt sich | |
eine Lösung finden zwischen zwei prekären Gruppen, die doch beide im Recht | |
sind? | |
Ich lebe in einem desaströsen Land – sowohl was die finanzielle Lage als | |
auch was die Situation mit den Flüchtlingen betrifft. Wenn ich die Griechen | |
anschaue, dann sehe ich Menschen, die Mut und Hoffnung verloren haben. Aus | |
ihren Gesichtern lese ich nur noch Hilflosigkeit. | |
28 Apr 2016 | |
## AUTOREN | |
Petros Markaris | |
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