# taz.de -- Sicherheitsexperte über Kybernetik: „Über Gott hinwegsetzen“ | |
> In seinem Buch „Maschinendämmerung“ beschäftigt sich der | |
> Sicherheitsexperte Thomas Rid mit der Ideengeschichte der Kybernetik. Ein | |
> Gespräch. | |
Bild: Thomas Rid, Sicherheitsexperte am King's College in London | |
Thomas Rid, geboren 1975, Professor für Sicherheitsstudien, lehrt am | |
Department of War Studies des King's College in London. Bei seinen | |
Veranstaltungen gilt er als der „Cyber-Guy“. Denn Rid beschäftigte sich mit | |
Phänomenen wie dem „Cyberwar“. Das Wort „Cyber“ leitet sich von | |
„Kybernetik“ ab – etwas, womit Rid zunächst nicht viel zu tun hatte. Dann | |
schrieb er eine Ideengeschichte der Kybernetik. | |
taz: Eigentlich wollten Sie den Begriff Kybernetik von den Mythen befreien? | |
Thomas Rid: Ich wollte dabei helfen, ihn überflüssig zu machen. Als ich das | |
Buchprojekt aber Informatikern vorgestellt hatte, waren die ganz heiß auf | |
das Thema. | |
Waren Sie von der Relevanz erstaunt? | |
Ja und dann von der Tiefe der Geschichte. Kybernetik vereint Militär-nahe | |
Forschung mit Gegenkultur, Artilleriefeuer mit LSD. Diese Spannung aus | |
Angst und Hoffnung, aus Unterdrückung und Selbstbefreiung. Dieser extreme | |
Kontrast ist sehr interessant. | |
Die Kybernetik beginnt als militärischer Forschungsbereich. Was macht | |
Kybernetik insgesamt aus? | |
Das ist eine historische Frage, weil sie sich in den Jahrzehnten wandelt. | |
Bei Norbert Wiener ging es um Feedback und negatives Feedback. | |
Das heißt? | |
Wenn ihr Heizungsregler Zuhause feststellt, es ist zu warm und deswegen die | |
Temperatur drosselt, ist das ein negatives Feedback. Zweite Komponente: Das | |
Verschmelzen von Mensch und Maschine. Wieners Idee war, dass der Pilot und | |
sein Kampfflugzeug eine Einheit werden. Das dritte Element ist das | |
Gleichgewicht, das durch die Feedbacks geschaffen werden soll. Die | |
Lernfähigkeit der Maschine ist dann Prinzip des Ganzen. | |
Kybernetiker denken Maschinen als Lebensformen? | |
Wiener schrieb kurz vor seinem Tod ein Buch mit dem Titel „Gott und Golem“. | |
Von Menschen erzeugtes Leben – das ist tief in der jüdischen und | |
griechischen Mythologie verankert. Das erzeugt eine ungeheure Faszination. | |
Wiener wollte die Religion mit einer Maschinentheorie entzaubern. Er | |
erreichte das Gegenteil und verzauberte die Maschinen der Gegenwart. Wir | |
spielen Gott, wenn wir Künstliche Intelligenz erzeugen. Wir haben ein | |
tiefes Bedürfen, Leben zu schaffen, das besser ist als wir. Wir wollen uns | |
über Gott hinweg setzen. | |
Meinen Sie das, wenn Sie Kybernetik als Ideologie bezeichnen? | |
Wir projizieren uns selbst in die Maschinen. In den 1940er Jahren galten | |
Computer noch denkende Maschinen. Auf der anderen Seite denken wir auch | |
Menschen von den Maschine her. Ebenso wird der Raum später zum Cyberspace. | |
In all diesen Bereichen schwankt das stets zwischen Angst und Hoffnung. Der | |
Wahrheitsgehalt liegt irgendwo in der Mitte. | |
Die Angst vor Massenüberwachung fußt auf einer empirischen Grundlage. Diese | |
Gedanken tauchen schon früh als dystopische Visionen auf. | |
Die einen sagen, Massenüberwachung funktioniert nicht, die anderen | |
kritisieren, wir werden permanent überwacht. Beides geht nicht. Ich denke | |
die Massenüberwachung ist ein Schreckgespenst. | |
Bei Verschlüsselungstechnik werden vor allem Inhalte verschlüsselt. Doch | |
die Dienste interessieren die Metadaten. | |
Bei altmodischen Telefonanrufen haben sie recht. Die bergen viele | |
Metadaten. Selbst bei verschlüsselten Emails ist noch klar, wer an wen | |
verschickt. Wenn sie iMessage verwenden, oder WhatsApp, dann haben sie in | |
der Regel aber eine HTTPS-Verbindung und eine End-zu-End-Verschlüsselung | |
oder beides. Wenn Sie dann die Daten von einer dicken Leitung abfangen | |
würden, würden sie sehen, dass sie stark verminderte Metadaten haben. Da | |
fehlen also harte Selektoren, an denen die Dienste interessiert sind. Auch | |
das Timing – wann die Kommunikation stattfindet – verliert an Bedeutung. | |
Weil sie den ganzen Tag bei Apple oder Facebook eingeloggt sind. Der | |
Nutzwert der Metadaten rutscht ab. | |
Aber Daten werden permanent von uns erzeugt. Mit Smartphone oder bei | |
„sozialen“ Medien. Das wird von Konzernen und Regierungen genutzt, um | |
Informationen zurück zu koppeln und Verhalten der Zukunft zu berechnen. | |
Eine Art kybernetische Steuerung dominiert doch längst unsere Gegenwart? | |
Meine Antwort wird sie enttäuschen: Die Kybernetik ist der Gegenstand den | |
ich mir anschauen möchte, ich nutze sie selbst jedoch nicht als Instrument. | |
Das ist absolut wichtig, wenn man die Geschichte studiert. Denn die | |
Kybernetik ist extrem verführerisch. Der Gründer von Scientology, Ron | |
Hubbard, war von Wieners Kybernetik inspiriert. Das ist ein | |
paradigmatisches Beispiel für die Verführungskraft. Ich habe in meinem Buch | |
versucht, dieser Kraft zu widerstehen. | |
Aber die Verführungskraft hat mit der Plausibilität zu tun? | |
Das ist wie bei einem Schweizer Offiziersmesser: Man kann die Kybernetik | |
für alles mögliche verwenden. Es funktioniert meistens ganz OK. Wenn man | |
aber die Kybernetik auf gesellschaftliche Phänomene anwendet – Cyberkrieg, | |
Massenüberwachung – dann ist genau das Gegenteil der Fall. Die Kybernetik | |
treibt uns in Extremvisionen hinein. Das ist das historische Muster. Die | |
Kybernetik selbst ist also in gewisser Weise gänzlich unkybernetisch, weil | |
sie kein Gleichgewichtszustand erzeugt. | |
Sie schildern den merkwürdigen Verlauf der Geschichte der Kybernetik. Es | |
entwickeln sich gänzlich gegensätzlichen Strömungen: einerseits die Utopien | |
totaler Freiheit der Cyberpunks, andererseits der Totalitarismus globaler | |
Überwachung. Wie passt das zusammen? | |
Technik inspirierte Zukunftsvisionen. Die ersten Visionen des Cyberspace | |
kamen mit den ersten Computern auf – und dann stürzten diese Dinger ständig | |
ab. Timothy Leary, der LSD-Guru, erkannte im Cyberspace einen neuen Raum, | |
der sich öffnete. Der Computer ist das LSD der 1980er Jahre. Es ist | |
grotesk, was die Leute damals alles dachten. Aber ich möchte mich nicht | |
darüber darüber lustig machen. Die Kybernetik setzt Ideen und Hoffnung | |
frei. Pionierzeiten sind Zeiten der Visionen. Im Bereich der Künstlichen | |
Intelligenz erleben wir das gerade wieder. | |
Wenn die Investoren im Silicon Valley Billionen Dollar in Künstliche | |
Intelligenz Dollar investieren, dann ist das eine recht handfeste | |
Angelegenheit, finden Sie nicht? Werden die Ideen der Kybernetik also doch | |
Stück für Stück zu einer Realität? | |
Wir leben in einer unglaublichen Phase der Menschheitsgeschichte. Noch nie | |
hat sich unser Kommunikationsverhalten in so kurzer Zeit verändert. | |
Gleichzeitig waren die Mehrzahl der Prognosen der Kybernetik falsch. Wir | |
haben eine selektive Wahrnehmung. Wir erinnern uns nur an die richtigen | |
Vorhersagen. Das ist eine wichtige Einsicht. Die meisten Prognosen von | |
heute werden falsch sein. | |
Die Pentagon-Forschungsbehörde stellte kürzlich einen autonom fahrenden | |
Katamaran vor, der U-Boote ausfindig machen soll. Im vergangenen Jahr | |
warnten tausende von Wissenschaftlern vor autonomen Waffensystemen. Die | |
Automatisierung des Krieges: nur eine fixe Idee? | |
Ich provoziere Sie mal. Ein autonomes Waffensystem tötet seit langer Zeit | |
Millionen Menschen: Landminen. Sie haben ein hohes Maß an Autonomie, denn | |
sie entscheiden auf Basis eines Eingabeparameters, zum Beispiel eines | |
Gewichts, zu explodieren. Bei netzwerkgesteuerten Drohnen gibt es keinen | |
Grund sie vollständig zu automatisieren, weil man Menschen in die | |
Feedback-Schleife mit hinein nehmen kann. Warum also Entscheidungsautonomie | |
erzeugen, wenn das gar nicht mehr nötig ist? Die Drohne stellt im Vergleich | |
zur Landmine einen ethischen Fortschritt dar. Und der Krieg der Maschinen | |
ist seit dem Zweiten Weltkrieg eine Realität. | |
Sie selbst arbeiteten auch bei der RAND Corporation, einem Think Tank des | |
US-Militärs. Sind Sie ein Militärberater? | |
Ich habe davor bei Herfried Münkler studiert und bin durch seine Schule | |
gegangen. Ich hatte nie Berührungsängste, wenn es um Sicherheitskreise und | |
Streitkräfte geht. Das ist am King's College for War Studies in London | |
nicht anders. Wir arbeiten eng mit Militär- und Nachrichtendiensten aus | |
England und den USA zusammen. Gerade wenn es um die Technik geht ist das | |
hochinteressant. | |
Warum? | |
Wenn sie sich in diesem Umfeld bewegen sind sie überrascht. Man sieht dann | |
junge Menschen mit schwarzen Kapuzenpullis, aber die organisieren keine | |
Demos, sondern checken sich mit ihren Sicherheitskarten bei den Diensten | |
ein. Bei den Diensten haben sie auch die Gegenkultur verinnerlicht. Snowden | |
ist ein Beispiel dafür. | |
Ist Snowden Ihrer Ansicht nach ein Verräter oder couragiert? | |
Leider ist Snowden in seiner Analyse nicht besonders nuanciert. Wenn man | |
sich sein Twitter-Feed anschaut ist das ziemlich grobschlächtig. Genauso | |
grobschlächtig war es auch, undifferenziert all alle diese internen Daten | |
abzugreifen. Er hat eine Art Vorratsdatenspeicherung innerhalb der NSA | |
unternommen und Dokumente heraus gegeben, die schlicht gar nichts mit | |
Freiheitsrechten zu tun haben. | |
Was meinen Sie? | |
Wie die NSA iranische oder chinesische Ziele aufklärt zum Beispiel. Dafür | |
gibt es doch die NSA. Das hat nichts in der Öffentlichkeit zu suchen. Er | |
hätte ein paar hundert Dokumente leaken können, die für die Debatte wichtig | |
sind. Es ist also Held und gleichzeitig Verräter. | |
17 Apr 2016 | |
## AUTOREN | |
Kai Schlieter | |
## TAGS | |
Edward Snowden | |
Daten | |
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