# taz.de -- Debatte Zukunft der Grünen: Kretsch und die grünen Zwerge | |
> Die Grünen feiern sich für ihren Erfolg im Südwesten. Doch hinter dem | |
> spektakulären Sieg Winfried Kretschmanns lauern Abgründe. | |
Bild: Was nun? Auch die grünste Note in einer Krawatte bringt die Grünen nur … | |
Zuerst die gute Nachricht. Die Grünen haben es nach den Wahlen vermieden, | |
ihren Reflexen nachzugeben. Weder taten die Fans von Winfried Kretschmann | |
so, als müsse jener nur kopiert werden, um die Ökopartei in lichte | |
Umfragehöhen zu führen. Noch machten linke Grüne den Fehler, die Sensation | |
in Baden-Württemberg als regionale Ausnahme abzutun. Alle interpretieren | |
die Wahlen nicht als Bestätigung der eigenen Weltsicht. | |
Dieser nüchterne Ton ist angemessen und professionell. Was in | |
Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt passiert ist, stößt | |
die Ökopartei ins Ungewisse. Wenn die Glücksgefühle abgeklungen sind, | |
werden die Grünen die Dialektik der Ergebnisse erkennen. Zwar haben sie die | |
CDU im Südwesten als Volkspartei abgelöst, aber hinter dem Erfolg lauern | |
Abgründe. | |
Ein paar Beispiele: Machtoptionen wie Rot-Rot-Grün oder Schwarz-Grün wurden | |
zerstört, kleine Regierungspartner düpiert. Winfried Kretschmanns Stärke | |
wirft ein hartes Licht auf die Schwäche der Grünen im Bund. Neben ihm | |
wirken sie plötzlich alle wie Zwerge. Wie hilflos die Partei ist, zeigt | |
sich daran, dass sie vor allem Stilfragen diskutiert. | |
Ohne Kretschmann wäre alles nichts. Fast 80 Prozent der Wähler finden, dass | |
das Land bei ihm in guten Händen ist. Gut 60 Prozent sagen, er sei der | |
wichtigste Grund, die Grünen zu wählen. Diese Traumwerte wurden übrigens | |
bei Wählern aller Parteien erhoben. Von den Grünen-Anhängern finden 98 | |
Prozent, dass er der Richtige ist - ein Hauch von real existierendem | |
Sozialismus im Ländle. | |
## Nichtwähler, Rentner, Arbeitslose | |
Diese Popularität führte zu Effekten, die es bei den Grünen noch nie gab. | |
Kretschmann zog die Wähler an wie ein Magnet. Verstanden sich die Grünen | |
nicht immer als die Partei der urbanen Akademiker, der Gebildeten und der | |
Jungen? Das war einmal. CDU-Wähler liefen en masse über, alle rot-grünen | |
Wechselwähler sowieso. Ehemalige Nichtwähler votierten für den | |
Ministerpräsidenten. Und, völlig untypisch für die Grünen, Rentner und | |
Arbeitslose auch. Kretschmann zieht, quer durch alle Milieus. | |
„Haltung, Stil und Offenheit“ könne man sich von Kretschmann abschauen. Das | |
sagen jetzt alle Spitzengrünen unisono, und diese Erklärungen wirken | |
seltsam hilflos. Denn was heißt das genau? Gerade in der Diskussion über | |
Flüchtlinge wird ja allenthalben über Haltung sinniert, und das Tolle an | |
ihr ist, das jeder seine eigene selbst definiert. Horst Seehofer ist - aus | |
seiner Sicht - wahrscheinlich Haltungsweltmeister. | |
Kretschmann beschreibt seine Haltung als „pragmatischen Humanismus“. Das | |
klingt wahr, gut und überzeugt, ist aber in Wirklichkeit sehr | |
widersprüchlich, aber das ficht die Haltung grundsätzlich nicht an. | |
Kretschmanns Humanismus hatte zum Beispiel kein Problem damit, Schikanen | |
für Flüchtlinge kampflos im Bundesrat passieren zu lassen. | |
Für die Grünen, die sich stark übers Inhaltliche definieren, waren | |
Stilfragen interessanterweise immer wichtig. Joschka war schon eine coole | |
Sau, wie er da in Turnschuhen den Amtseid ablegte, oder? Wenn sich nun alle | |
Analysen wieder ins Habituelle flüchten, erinnert das an 2013. Auch damals | |
diskutierten die Grünen vor allem über Stil, nach einem allgemein als | |
schlecht empfundenen Wahlergebnis. Man einigte sich darauf, fortan die | |
bürgerliche Mitte anzusprechen. Weg mit Angriffslust und Jürgen Trittin, | |
her mit Nachdenklichkeit, Besonnenheit und Versöhnung. | |
## Mehr Haltung? Hilft wenig | |
Ihre neue Haltung hat den Grünen wenig genutzt. Sie stecken in der | |
10-Prozent-Nische, obwohl sie um die bürgerliche Mitte werben. Das Fiese | |
ist ja, dass in den aktuellen Rufen nach Stil und Haltung eine harte Kritik | |
am eigenen Spitzenpersonal steckt, wenn man sie zuende denkt. | |
Cem Özdemir und Katrin Göring-Eckardt sind dafür zuständig, um | |
wertkonservative Milieus zu werben. Beide sind linker Umtriebe | |
unverdächtig, beide gehen offen auf Konservative zu, und beide spielen seit | |
Langem ganz vorne bei den Grünen mit. Özdemir war schon Chef, als die | |
Partei nach Fukushima in Umfragen auf über 20 Prozent kletterte. Und | |
Göring-Eckardt war schon 2013 Spitzenkandidatin. Obwohl sie im Moment die | |
stärksten Figuren im Bund sind, zeigt die bürgerliche Mitte den Grünen | |
hartnäckig die kalte Schulter. Ihre Haltung hilft ihnen da wenig. | |
Vielleicht ist es ja so: Haltung kann eine äußerst diffuse Sache sein. Ab | |
und zu schadet ein scharfes, schlüssiges Argument nicht. Ab und zu ist | |
klare Konturierung notwendig, wenn man in der Opposition sitzt und Angela | |
Merkel das Image der modernen Konservativen gepachtet hat. Vielleicht ist | |
Differenz zwischen den Parteien sowieso nicht das Schlechteste, wenn viele | |
Wähler das Gefühl haben, von einem Einheitsbrei regiert zu werden. Der | |
Nutzen von Personalisierungsstrategien ist überschaubar, wenn der Amtsbonus | |
auf der Gegenseite einzahlt. | |
Beängstigend für die Grünen ist außerdem, dass die Wahlen nach einem | |
einfachen Prinzip funktionierten: The winner takes it all. Mit Kretschmann, | |
der Sozialdemokratin Malu Dreyer und dem CDUler Reiner Haseloff wurden alle | |
Amtsinhaber bestätigt. Kleine, ordentlich arbeitende Koalitionspartner | |
wurden fast pulverisiert - wie die Grünen in Rheinland-Pfalz. Diese | |
Ergebnisse zeigen, wie groß die Angst vieler Deutscher ist - siehe AfD. | |
Gleichzeitig drückt sich in ihnen aber eine große Sehnsucht nach Stabilität | |
aus. | |
## Optionen lösen sich in Luft auf | |
So bürgerlich sich die Grünen bis 2017 geben mögen: Sie stehen im Bund | |
immer für das Neue und Ungewohnte, während die Große Koalition das | |
Sicherheitsbedürfnis der Deutschen idealtypisch bedient. Das ist etwas | |
unfair, aber nicht zu ändern. Aus diesem Grund entschied sich Merkel 2013 | |
ja bewusst für die SPD - und gegen die Grünen. In der allgemeinen | |
Begeisterung geht auch unter, dass die Grünen vor einem taktischen Dilemma | |
stehen. Durch das Erstarken der AfD und die Renaissance der FDP lösen sich | |
ihre Machtoptionen in Luft auf. | |
Jahrelang haben sich die Grünen ideologisch über Schwarz-Grün und | |
Rot-Rot-Grün gestritten. Unzählige Thesenpapiere wurden geschrieben, | |
diverse Parteitagsbeschlüsse gefasst. Aus und vorbei, all die Papiere sind | |
umsonst geschrieben. Die Mehrheit für das linksprogressive Lager ist | |
verschwunden, die Mehrheit für das schwarz-grüne Bündnis aber auch. Was für | |
eine Ironie der Geschichte, ausgerechnet in dem Moment, in dem in Thüringen | |
und Hessen Vorbilder funktionieren, gehen beide Machtoptionen verloren. | |
Müssen die Grünen etwas konservativer werden, um im Bund neue Wähler | |
anzusprechen? Auch hier lassen die Wahlen keine eindeutigen Schlüsse zu. | |
Spitzengrüne erzählen im Moment gerne, dass Kretschmann ja wirklich urgrüne | |
Themen durchgekämpft habe. Das mag sein. Aber Kretschmann war auch deshalb | |
erfolgreich, weil er grüne Programmatik und den Koalitionsvertrag an | |
entscheidenden Stellen ignorierte, nämlich dann, wenn es ans Eingemachte | |
ging, etwa um die Interessen der Großkonzerne und Finanzeliten. | |
Linksgrüne können deshalb nicht mehr behaupten, all ihre Ideen seien | |
Publikumslieblinge, und sie tun es ja auch schon nicht mehr. Umkehrt müssen | |
aber auch die Realos dazu lernen. Die meisten Wähler sind in | |
Baden-Württemberg von der CDU zu den Grünen gewechselt, weil sie mehr | |
soziale Gerechtigkeit wollen - ein Lieblingsthema der Linken. In Hessen | |
arbeiten die Grünen still und angepasst in der Landesregierung mit der CDU | |
zusammen, trotzdem wurde die Partei bei den Kommunalwahlen rasiert. Mehr | |
Konservatismus oder Mitte links bleiben - so einfach ist es nicht. | |
Was also können die Grünen tun? Sie können ein paar linke Inhalte an die | |
Wünsche ihrer bürgerlichen Klientel anpassen. Sie dürfen dabei auf keinen | |
Fall ihr Kernklientel verlieren, weil es ihnen im Zweifel den Hals rettet. | |
Ansonsten müssen sie beten, dass die Geschichte bis 2017 ein paar Ökothemen | |
auf die Agenda spült. | |
18 Mar 2016 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
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