# taz.de -- Essay Ende der Volksparteien: Der misstrauische Souverän | |
> Die Welt erklären, das Richtige entscheiden: Immer weniger Wähler trauen | |
> den etablierten Parteien das zu. Wie konnte es dazu kommen? | |
Bild: Die SPD hat ihre Integrationskraft als Volkspartei verloren | |
War es das jetzt mit großen Parteien, stabilen Mehrheiten und Regierungen? | |
Keine neue Partei sprang je so hoch wie die AfD in Sachsen-Anhalt, noch nie | |
wurden die Grünen in einem Land stärkste Partei. Und nie zuvor waren die | |
Unterschiede bei der SPD so riesig: von den sonnigen Höhen in | |
Rheinland-Pfalz bis zu den tiefen Tälern in Baden-Württemberg und | |
Sachsen-Anhalt. Und selten zuvor verlor wie nun die Union eine Partei in | |
drei Ländern, obwohl (oder gerade weil?) eine Mehrheit der Bevölkerung ihre | |
Regierungspolitik im Bund nach wie vor gutheißt. | |
Es scheint etwas ins Rutschen geraten zu sein. Mit jeder neuen Wahl scheint | |
die Politikordnung der alten Bundesrepublik mit ihren klaren Verhältnissen | |
weiter in die Ferne zu rücken. | |
Ein Blick auf die Voraussetzungen der Integrationskraft von Volksparteien | |
und die Grundlagen politischer Repräsentation führt zu der Frage, woraus | |
sich politische Stabilität eigentlich speist. Parteien leisten – neben den | |
ihnen zugewiesenen Aufgaben der Mitwirkung an der Willensbildung des | |
Volkes, den Wahlen und der Rekrutierung des politischen Führungspersonals – | |
einen wichtigen Beitrag zur Reduktion politischer wie gesellschaftlicher | |
Komplexität und zur Einteilung von Entscheidungsalternativen in richtig und | |
falsch. Sie bedürfen daher des Vertrauens ihrer Anhänger und Wähler, dass | |
sie dies nach den gewünschten, „richtigen“ Maßstäben gestalten. | |
In einer Demokratie speist sich Vertrauen aus mehreren Quellen. Geregelte | |
Verfahren wie Wahlen stellen eine dieser Quellen dar. Kein Mensch kann in | |
modernen Demokratien alle politischen Diskussionen und | |
Entscheidungssituationen selbst überblicken. Das Ergebnis wäre permanente | |
Überforderung. Verfahren dampfen die Entscheidung, die ein Bürger als Teil | |
des Souveräns zu treffen hat, auf eine Wahlentscheidung zu Beginn einer | |
Wahlperiode ein: Wen oder welche Partei wähle ich, damit er oder sie für | |
mich die richtigen Entscheidungen trifft? | |
## Vertrauensbildende Wahlen | |
Dass diese Reduktion heutzutage vielen Menschen nicht mehr genügt, zeigt | |
die in Deutschland sinkende Wahlbeteiligung seit den 1980er Jahren wie auch | |
die immer lauter geäußerte Forderung nach einer direktdemokratischen | |
Erweiterung politischer Verfahren. Wahlen als Vertrauen stiftendes Element | |
scheinen unter Druck geraten zu sein. | |
Denn auch wenn bei den jüngsten Landtagswahlen die Wahlbeteiligung gegen | |
den Trend wieder etwas gestiegen ist: Die Tatsache, dass sich der Anstieg | |
besonders der Mobilisierung einer Bewegung wie der AfD verdankt, welche die | |
Kritik an einem vermeintlich verkommenen repräsentativen System auf die | |
Spitze treibt und mehr direkte Demokratie fordert, macht deutlich, wie | |
gering Wahlen mittlerweile in Teilen der Gesellschaft geschätzt werden. | |
Eine weitere Quelle von Vertrauen speist sich aus politischen oder | |
religiösen Weltanschauungen und Ideologien. Menschen gewinnen mit | |
verinnerlichten Weltbildern auch die Fähigkeit, nach gut und böse, nach | |
richtig und falsch für sich selbst zweifelsarm entscheiden zu können. | |
Anhänger einer politischen Bewegung, die sich einer gefestigten politischen | |
Ideologie bedient, profitieren von dieser Verlässlichkeit. Denn sie können | |
darauf vertrauen, wie die Führer dieser Bewegung in den meisten politischen | |
Fragen entscheiden. | |
Der politische Katholizismus oder die Arbeiterbewegung sind die wohl | |
prägnantesten Beispiele dieser Vertrauen stiftenden Wirkmächtigkeit von | |
Weltbildern. Aber auch dieser Ursprung politischen Vertrauens ist mit der | |
Auflösung politischer Traditionsmilieus in den westlichen Gesellschaften | |
nahezu versiegt. | |
Vertrauen in die Fähigkeiten und Kenntnisse von Experten ist eine dritte | |
Form, die komplexe Wirklichkeit begreifbar zu machen. Das häufige | |
Beauftragen von Gremien, die sich aus renommierten Wissenschaftlern oder | |
Spezialisten zusammensetzen, ist denn auch eine der Entwicklungen, mit | |
denen versucht wird, Legitimation für Politik in zu erreichen. | |
## Den Bürger entlasten | |
Dass Expertenkommissionen sachdienliche Entscheidungen für unüberschaubare | |
politische Felder treffen, soll den Bürger oder die Bürgerin davon | |
entlasten, Alternativen selber prüfen zu müssen. Doch auch an dieser Stelle | |
ist die Figur des Experten oftmals eher Keim eines Misstrauens gegenüber | |
Politik geworden denn Quell eines stabilen Glaubens an das wohl geordnete | |
Funktionieren von Parteien und Repräsentation. Denn wer wählt die Experten | |
überhaupt aus? Und welche? | |
Für die meisten Kontroversen der vergangenen Jahre, etwa in der | |
Atomenergie, in der Euro- und Finanz- oder der Flüchtlingskrise, ließen | |
sich zudem verschiedenste Experten finden, deren Diagnosen und Rezepte sich | |
diametral entgegenstanden, sodass vom beruhigenden Gefühl technokratischer | |
Lösungskompetenz wenig übrig blieb. Zumal Parteien mit schwindendem | |
Nachwuchs immer weniger auf eigene Experten zurückgreifen können. | |
Die politischen Parteien – und in besonderem Maße die Volksparteien – | |
trifft das Versiegen dieser Quellen hart: Je weniger sie auf die Akzeptanz | |
der Verfahren, die ordnende Kraft ihrer Weltbilder oder die fachliche | |
Autorität von Experten zurückgreifen können, umso mehr sind sie einem | |
gesellschaftlichen Misstrauen ausgesetzt, durch das ihre einst | |
unangefochtene Stellung erodiert. | |
Wem also als Bürger Vertrauen schenken, um nicht halb irre zu werden an den | |
politischen Anforderungen einer globalisierten Welt? Die großen | |
Volksparteien SPD und CDU können jedenfalls nur noch sehr eingeschränkt | |
deutlich machen, was die unverbrüchlichen Ressourcen und Leitlinien ihres | |
Handelns sind. Ihre Zukunftsbilder, ihre Ideologien, die Objekte ihres | |
Strebens – alles ist brüchig und ein Stück weit austauschbar geworden. | |
Vertrauen auf einzelne Personen zu konzentrieren ist in einer immer | |
komplizierter gewordenen Welt eine weitere Möglichkeit, Übersichtlichkeit | |
und Verlässlichkeit zu garantieren. Die populistischen Bewegungen in den | |
Nachbarländern mit ihrer Konzentration auf charismatische | |
Führungspersönlichkeiten zeigen dies deutlich. | |
Mit der AfD hat indes eine Bewegung die politische Bühne betreten, deren | |
Popularität sich nicht durch die Anziehungskraft einer Führungsperson | |
erklären lässt. Denn drei Viertel ihrer Wähler in Baden-Württemberg, | |
Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt betonen, sich aufgrund der | |
„Sachlösungen“ für die Partei entschieden zu haben – und dies nicht | |
kurzfristig, sondern bereits „in den letzten Wochen“ vor der Wahl oder | |
„früher“. Erratisches Protesthandeln, durch strahlende Führer | |
aufgestachelt, sieht anders aus. | |
## Einhegen, was Angst macht | |
Es ist vielmehr die Betonung des „Volkes“ als Kern der AfD’schen | |
Demokratievorstellungen, die aufhorchen lässt. Das Vertrauen, das die | |
AfD-Anhänger ihren politischen Vertretern bis dato einräumen, verdankt sich | |
in großem Maße dem Versprechen, über die Zugehörigkeitskategorie „Volk“ | |
eine bedrohliche Unübersichtlichkeit der Politik handhabbar zu machen. Wenn | |
nur noch diejenigen mit stimmen, beitragen, möglicherweise überhaupt hier | |
sein dürfen, denen man vertraut, weil sie aus dem eigenen, bekannten, eben: | |
„Volks-“Kulturkreis stammen, dann sei die Demokratie wieder in der Lage, | |
vernünftige und richtige Entscheidungen zu produzieren. | |
Es ist das Versprechen einer Einhegung von Einflüssen, die viele Menschen | |
nicht mehr verstehen und die ihnen Angst machen. Und dies auf der Grundlage | |
einer Gemeinsamkeit, die intuitiv verständlich machen soll, nach welchen | |
Kriterien entschieden wird. Eben: dass es gut ist für das eigene „Volk“, | |
was immer das auch heißen mag. | |
Die politikwissenschaftliche Theorie hat für Volksparteien immer wieder | |
herausgestrichen, wie modern, offen und ungebunden deren Organisationen | |
seien, wie beweglich und stimmungsorientiert ihre Kampagnen und Programme. | |
SPD und CDU haben sich in dem Maße diesem vermeintlichen Ideal angenähert, | |
in dem die Verbindungen zu gefestigten Milieus mit umfassenden | |
Weltanschauungen schwanden. Damit aber stehen sie als politische | |
Vertretungen möglichst vieler, heterogener gesellschaftlicher Gruppen vor | |
der fortwährenden Aufgabe, zu begründen, was die unveräußerlichen | |
Fundamente ihres Handelns sind. | |
Dieser einst breite Strom politischen Vertrauens ist mittlerweile kaum mehr | |
als ein dünnes Rinnsal. Dass der AfD derartige Wahlerfolge beschieden sind, | |
hat auch damit zu tun, dass die volksparteiliche Kernaufgabe, Komplexitäten | |
zu reduzieren und politisches Vertrauen zu generieren, von den etablierten | |
Parteien derzeit nicht mehr ausgefüllt wird. | |
20 Mar 2016 | |
## AUTOREN | |
Felix Butzlaff | |
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