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# taz.de -- Kolumne „Rollt bei mir“: Hilfe von der Boygroup
> Die Krankenkasse ist ein Dino, das Gesundheitssystem sein vorzeitlich
> agierendes Muttertier. Wer etwas will, muss erfinderisch sein.
Bild: „Zisch“, Reifen platt. Kommt in den besten Familien vor
Neulich rolle ich so durch die Fußgängerzone. Plötzlich höre ich ein
„zisch“. Ein bisschen klingt es, als hätte jemand den Kronkorken einer
gekühlten Limonadeflasche aufgemacht. Dummerweise war es die Luft, die aus
dem Reifen meines Rollstuhls entwicht. Ich brauchte hier und jetzt Ersatz.
Wenig später im Zweiradcenter sah ich mich von einer Monteur-Boygroup
umgeben. Eine hatte eine größere Haartolle als der andere. Es fehlten nur
noch ein Kontrabass, Barhocker und ein Mikro aus den 50ern. „Das müssten 24
Zoll sein…“. „Nein, 25,5.“ „Sieht doch jeder, dass es astreine 26 Zoll
sind“, diskutierten sie eifrig meine Reifengröße.
Zuvor hatte ich das Pflichtprogramm absolviert – ein Rollstuhl wird
üblicherweise vom „autorisierten Versorger“, also dem Sanitätshaus,
repariert. „Haben Sie ein Rezept für die Reparatur?“ fragte mich eine
ältere Dame am Empfang.
„Nein, der Platten war nicht geplant“, antwortete ich. „In der Werkstatt
erreiche ich niemanden mehr. Außerdem ist der Rollstuhl nicht aus unserem
Haus, da müssten Sie die Kosten der Reparatur und den Arbeitsaufwand selbst
zahlen.“
## Maffiöse Onlineforen
Also halfen mir die Monteure im Fahrradladen. So viel Spontanität ist man
als Mensch mit Behinderung nicht gewöhnt. Für jeden Pups braucht man eine
Verordnung vom Arzt, für jedes Hilfsmittel einen Kostenvoranschlag und eine
Mengenschätzung für die Krankenkasse.
Erst neulich urteilte deshalb das Sozialgericht Dresden, die Kasse dürfe
die Trinkmenge eines Menschen nicht reglementieren. Der Kläger ist
querschnittsgelähmt und hatte angegeben, nach dem Verlust einer Niere mehr
trinken zu müssen und deshalb einen erhöhten Bedarf an Kathetern zur
Blasenentleerung zu haben. Diesen wollte die Kasse nicht bewilligen.
Im Internet gibt es maffiöse Foren, in denen sich Betroffene Tipps geben,
wie man am überzeugendsten argumentiert, um das Benötigte bewilligt zu
bekommen. Oft kommt es dabei auf den genauen Wortlaut auf dem Rezept an.
Dabei handelt es sich um Rollstühle, Krücken, Rampen und andere
Sanitätsartikel des täglichen Bedarfs.
Die Krankenkasse ist ein träger Dino, das Gesundheitssystem sein
vorzeitlich agierendes Muttertier. Beide haben einen Wahn, wenn es um
Normen, Richtlinien und Mengen geht. So etwas wie Mehrbedarf, weil das
Leben dazwischenfunkt, gibt es nicht. Die Bescheide, ob etwas bewilligt
wird oder nicht, trudeln zu allem Überfluss noch in Beamtendeutsch ein.
## Astra! Nein, Kindl!
Anstelle eines gewünschten dreirädrigen Fahrrads erhielt ich zum Beispiel
mal einen teureren elektrischen Rollstuhl bewilligt. Um körperlich fit zu
bleiben, was ich eigentlich wollte, war das natürlich Quatsch. Nach
zahlreichen Anrufen und einem Beschwerdebrief bekam ich doch das Fahrrad
zugesprochen. Welch ein Irrsinn.
Im Fahrradladen jedenfalls wurde die richtige Größe des Reifenschlauchs
letztendlich gefunden, alles wurde für sieben Euro aufgezogen, nebenbei
noch die Biersorte der Splitter im Reifen bestimmt (‚Astra!‘, - ‚Nein,
Kindl!‘) und ich konnte weiterrollen.
Dass das Geschäft kein autorisierter Versorger ist, darüber bewahren wir
Stillschweigen, in Ordnung?
18 Mar 2016
## AUTOREN
Judyta Smykowski
## TAGS
Gesundheitspolitik
Bürokratie
Krankenkassen
Rollstuhl
Sozialgericht
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