| # taz.de -- Kolumne „Rollt bei mir“: Ich bin Porno | |
| > Nur weil ich sitze und Sie stehen, sind Sie nicht automatisch besser dran | |
| > als ich. Also hören Sie auf, mich als Inspirationsquelle zu missbrauchen. | |
| Bild: Dass andere joggen gehen und ich nicht, ist mir egal | |
| Auf einer WG-Party stand ich in der Küche, lässig an die Arbeitsplatte | |
| gelehnt, in der Hand einen geriffelten weißen Plastikbecher mit einem | |
| Drink. Kurz darauf mutierte ich zur Heldin. „Ich stelle mir dein Leben so | |
| schwer vor“, so sprach mich jemand an. „Du machst das so toll“ – „Ich | |
| bewundere dich so!“ | |
| Was hatte ich getan? Hielt ich meinen Becher auf besondere Weise? War mir | |
| meine Frisur besonders gut gelungen? Ich habe offenbar verborgene Kräfte, | |
| die ich selbst nicht einmal bemerkt habe. Aber welche? Menschen schließen | |
| gern von sich auf andere. Ich nehme mich da nicht aus. | |
| Wenn Leute mich im Rollstuhl oder an den Krücken sehen, denken sie sich | |
| wahrscheinlich so etwas wie: „Ich könnte das nicht. Sie muss Schmerzen | |
| haben. Immer die Hände an den Krücken oder an den Rädern. Und sie muss es | |
| jeden Tag vermissen, einmal joggen gehen zu können. Trotz der Behinderung | |
| keine Schmerzen. Trotz der Behinderung glücklich sein. Wie macht sie das | |
| bloß?“ „Behindert zu sein ist wohl ein Fulltimejob, da bleibt keine Zeit | |
| für Kleinigkeiten des Alltags“, denken sie. | |
| Ja, ich habe mal Wehwehchen wie jeder andere auch. Und ja, auch mal | |
| aufgrund der Behinderung. Aber solange ich meinem Gegenüber deshalb nicht | |
| jammernd in den Ohren liege, sollte er nicht davon ausgehen, dass es mir | |
| dauerhaft schlecht geht. Und dass andere joggen gehen und ich nicht, ist | |
| mir egal. | |
| ## Kummerkasten | |
| Eins draufpacken noch diejenigen, die sagen: „Wenn ich Sie so sehe, dann | |
| darf ich über meine Wehwehchen gar nicht meckern.“ Doch, dürfen Sie. Aber | |
| nur weil ich behindert bin, bin ich nicht der Kummerkasten vom Dienst. Und | |
| nur weil ich sitze und Sie stehen, sind sie nicht automatisch besser dran. | |
| Das Phänomen der Bewunderung und des Vergleichens mit der eigenen Situation | |
| prägte die australische, inzwischen verstorbene Behindertenrechtsaktivistin | |
| Stella Young mit dem Begriff „Inspiration Porn“. Der Mensch mit einer | |
| Behinderung wird dabei zu einem Objekt, zu einer Inspirationsquelle. | |
| Man wird bewundert, nur weil man eine Behinderung hat. Das reicht völlig | |
| aus. Behinderte Menschen sind aber keine Buddha-Zen-Seminargeber für die | |
| tägliche Portion Mut und den Kalenderspruch für unterwegs. Durch die | |
| Stilisierung als jemand Außergewöhnliches, meist als tapferer Held oder | |
| bemitleidenswertes Opfer – je nach Situation –, schafft man eine Distanz | |
| und keine Augenhöhe. | |
| Man muss behinderten Menschen nicht dazu gratulieren, dass sie es morgens | |
| aus ihrem Bett schaffen, sagte Stella Young. Mir darf man manchmal dazu | |
| gratulieren, aber das hat nichts mit der Behinderung zu tun. | |
| ## Mitleid | |
| Von Bewunderung kann man sich nichts kaufen. Auf Bewunderung, die nur aus | |
| Mitleid rührt, kann ich gern verzichten. Bewundert werden möchte ich nur, | |
| wenn ich etwas Außergewöhnliches geleistet habe. Eine Behinderung gehört | |
| nicht dazu. | |
| Bei der Party in der Küche ging es dann auch noch um Abschlüsse und wer den | |
| höchsten hat. Fachabitur, Berufsausbildung, Bachelor. Den Master in der | |
| Runde hatte ich. Trotz Behinderung. Mist, schon wieder eine | |
| Inspirationsquelle. | |
| 8 Apr 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Judyta Smykowski | |
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