| # taz.de -- Folgen eines Brandanschlags: Angst und Angst | |
| > Auf ein Flüchtlingsheim in Laatzen wird ein Brandanschlag verübt. Jetzt | |
| > fürchten sich Bürger und Asylsuchende. | |
| Bild: Flüchtlinge bei ihrer Ankunft in Laatzen | |
| HANNOVER taz | Der Albtraum beginnt am Silvestermorgen. Unbekannte | |
| schneiden gegen 3.45 Uhr ein Loch in den Zaun auf der Rückseite eines | |
| Flüchtlingsheims in Laatzen-Gleidingen, einem Vorort von Hannover. Sie | |
| werfen Grillanzünder in einen Kellerschacht der Unterkunft, eines | |
| ehemaligen Hotels mit Holzfassade. | |
| Die aktuell 59 Schutzsuchenden, die erst am 16. Dezember eingezogen sind, | |
| haben Glück: Eine Nachbarin bemerkt den Feuerschein, alarmiert einen Mann | |
| vom Sicherheitsdienst. Der 46-Jährige kann die Flammen mit dem Feuerlöscher | |
| ersticken – verletzt wird niemand, verqualmt sind nur die Kellerräume. | |
| Doch der Albtraum geht weiter. Zehn Tage später, am vergangenen | |
| Sonntagabend, verhaftete die Polizei in der Flüchtlingsunterkunft einen der | |
| Bewohner. Dem 23-Jährigen aus dem Libanon wird massive sexuelle Gewalt | |
| vorgeworfen: In der Gleidinger Ortsmitte mit ihrer Mischung aus | |
| Fachwerkhäuschen und zwei- bis dreistöckigen Sechzigerjahre-Bauten, keinen | |
| Kilometer vom Heim entfernt, soll er eine 45 Jahre alte Frau zunächst mit | |
| anzüglichen Gesten und Sprüchen genervt, sie danach verfolgt haben. Mit | |
| entblößtem Penis habe er ihr zwischen die Beine und an die Brust gefasst, | |
| sagt die Frau – erst nach lauten Hilferufen sei der Täter weggelaufen. | |
| ## „Versuchte Vergewaltigung“ | |
| Über die „versuchte Vergewaltigung“ berichtet die Lokalpresse jetzt | |
| seitenfüllend. „Beschissen“ sei die Stimmung unter den rund 4.300 | |
| Einwohnern Gleidingens, erzählt der Kioskbesitzer Egon Müller, der von | |
| seinen Zeitungen und Zigaretten auf die Straße des Tatorts blicken kann: | |
| „Eine meiner Kundinnen hat so große Angst, dass sie wegziehen will.“ Nun | |
| versuche er, sie zu beruhigen: „Hier ist doch schon etwas passiert, hier | |
| ist jetzt verstärkt Polizei, hier ist es sicher.“ | |
| Den Flüchtlingen aber steht auch er skeptisch gegenüber: „Viele sprechen | |
| kein Wort Deutsch. Viele interessieren sich nicht für unser Land“, glaubt | |
| er. Über die Brandstiftung spricht er erst auf Nachfrage: „Natürlich“ sei | |
| es „nicht richtig“, mit einem Brandanschlag 59 Menschen nach dem Leben zu | |
| trachten. „Trotzdem: Ich habe nicht nur Gutes über Flüchtlinge gesagt“, | |
| sagt er beim Abschied. | |
| ## Pauschale Urteile gegen Flüchtlinge | |
| Auf der Dorfstraße gegenüber der Kneipe „Zum Zapfhahn“ zeigt ein Mann auf | |
| dem Nachhauseweg, wie Gerüchte funktionieren: Er habe schon von „zwei | |
| Vergewaltigungen“ gehört, sagt er. „Persönlich“ habe er zwar noch nie | |
| Probleme mit Flüchtlingen gehabt, aber:“Wir schaffen das nicht“, sagt er | |
| unter Anspielung auf das Mantra von Bundeskanzlerin Angela Merkel. „Wer | |
| Straftaten begeht, gehört rigoros abgeschoben.“ | |
| Besonders krass äußert sich ein Rentner, der auf dem Weg zur | |
| Straßenbahnhaltestelle am kranzgeschmückten Denkmal für die jüdische | |
| Synagoge, die nach den Novemberpogromen von 1938 abgerissen wurde, | |
| vorbeiläuft. Kanzlerin Merkel gehöre „in die geschlossene Anstalt“, findet | |
| er – und erklärt pauschal „30 Prozent“ der Schutzsuchenden, die in die | |
| Bundesrepublik kommen, für „Verbrecher“. | |
| Auch vielen Deutschen gehe es schlecht, klagt der Mann: „Denen hilft unser | |
| Staat nicht.“ Froh sei er nur, das er mit seinen 70 Jahren nicht mehr | |
| mitbekommen werde, „wie hier Wildwest losgeht“ – und faselt dann von „�… | |
| im KZ Bergen-Belsen, die man wieder anschmeißen sollte“. | |
| ## Genervt vom Aktionismus der Bundespolitik | |
| Frauen dagegen äußern sich auf der Dorfstraße nach Sarstedt | |
| differenzierter. „Traurig“ habe sie sowohl der Brandanschlag wie der | |
| Vorwurf sexueller Gewalt gemacht, sagt eine vor dem Schuhgeschäft Siebens. | |
| Natürlich täten ihr die Flüchtlinge leid, wenn sie lese, dass diese etwa in | |
| einer von Hannovers Messehallen auf engstem Raum ohne jede Privatsphäre | |
| zusammenleben müssten. | |
| Der „Aktionismus“, den die Bundespolitik mit der Ankündigung immer neuer | |
| Gesetzesverschärfungen an den Tag lege, nerve sie „nur noch“. Stattdessen | |
| müssten die bestehende Gesetzen endlich „konsequent“ angewandt werden – … | |
| klar müsse auch sein: „Wer gegen Gesetze verstößt, muss weg.“ | |
| Ähnlich klingt auch die Friseurin im „Salon Kühne“, wenige Meter weiter: | |
| „Spinner gibt es überall“, meint sie mit Blick auf den Brandstifter und den | |
| mutmaßlichen Vergewaltiger. Klar sei aber: Ja, beides ängstige die Menschen | |
| im Dorf und auch sie selbst: „Natürlich machen wir uns alle Gedanken, sind | |
| vorsichtiger“, sagt die freundliche Frau mit Blick auf ihren Sohn, der | |
| gerade von der Schule hereingekommen ist. „Ja“, sagt sie nachdenklich, „d… | |
| Leute haben mehr Angst jetzt.“ | |
| ## Kollektive Stigmatisierung | |
| Angst und Verunsicherung – sie sind auch wenige Hundert Meter die | |
| Dorfstraße hinauf Richtung Hannover in der Flüchtlingsunterkunft zu spüren. | |
| „Ich glaube, dass es genug Menschen gibt, die uns hier noch einmal Anzünder | |
| ins Fenster werfen wollen“, sagt Gabriele Schuppe, die bei der | |
| Arbeiterwohlfahrt, die das Flüchtlingsheim betreibt, für Migration | |
| zuständig ist. | |
| Die Sozialarbeiterin Elvira Hendricks, die die Flüchtlinge zusammen mit | |
| ihrer Kollegin Gülten Dündal vor Ort betreut, meint, viele der | |
| Schutzsuchenden hätten zwar mitbekommen, dass der Anschlag letztendlich | |
| ihrem Leben galt, „weil aber die Feuerwehr so schnell hier war und | |
| glücklicherweise niemand verletzt wurde, bleibt das Gefühl: Es ist ja | |
| nichts Schlimmes passiert“. | |
| Viel mehr sorgt die Bewohner des Flüchtlingsheims, dass sie wegen der | |
| Verhaftung des unter Vergewaltigungsverdacht stehenden 23-Jährigen von den | |
| Dorfbewohnern kollektiv stigmatisiert und als Kriminelle abgestempelt | |
| werden könnten. In Aufregung sind nicht nur die 20-jährige Frau des | |
| Libanesen und einer seiner Freunde, die immer wieder beteuern, sie könnten | |
| sich die Vorwürfe nicht erklären – das Ganze müsse ein Irrtum, eine | |
| Verwechselung sein. | |
| ## Polizei macht Spielregeln klar | |
| Auch unbeteiligte Heimbewohner spüren eine neue Feindseligkeit: „Ich merke | |
| doch, dass die Deutschen mich plötzlich misstrauisch anschauen, selbst wenn | |
| ich nur Kleinigkeiten einkaufe“, sagt etwa der Flüchtling Mohammed | |
| al-Mohammed, der es aus der syrischen Stadt Qamischli an der Grenze zur | |
| Türkei nach Deutschland geschafft hat. „Es ist schlimm, wenn die Polizei zu | |
| uns kommt“, glaubt er. „Andauernd ein Polizeiwagen vor der Tür: Wie sieht | |
| das aus?“ | |
| Die Verunsicherung spüren auch die Polizisten Dirk Rindfleisch und Wolfgang | |
| Deike. Die beiden Kontaktbeamten sind in die Unterkunft gekommen, um den | |
| Schutzsuchenden ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln – einerseits. Auf | |
| der anderen Seite wollen sie grundlegende Spielregeln des Zusammenlebens | |
| noch einmal klarmachen. „Niemand muss in Deutschland Angst vor der Polizei | |
| haben, wenn er sich an Recht und Gesetze hält“, sagt Polizist Rindfleisch. | |
| Jeder seiner Sätze wird erst ins Arabische, dann ins Albanische übersetzt: | |
| Sexuelle Übergriffe wie Silvester in Köln und Hamburg würden nicht | |
| geduldet, sondern „schwer bestraft“– genau wie jede andere Form von Gewal… | |
| auch in der Familie. Ebenso verboten seien Drogen und Symbole | |
| terroristischer Vereinigungen wie etwa die des sogenannten „Islamischen | |
| Staats“. | |
| ## Zivilisiertes Syrien, europäisches Albanien | |
| Von den MigrantInnen kommt Widerspruch – die große Sorge, pauschal als | |
| kriminell betrachtet zu werden, ist ihnen anzumerken. „Albanien gehört zu | |
| Europa. Auch da sind Drogen verboten“, sagt ein Flüchtling aus Tirana. | |
| „Syrien ist ein modernes Land. Wir wissen, dass man Frauen nicht belästigt | |
| – und vor dem Terror des IS bin ich doch selbst geflohen“, sagt ein | |
| anderer. Staunen herrscht, als erwähnt wird, dass es in Deutschland doch | |
| gesetzeskonform ist, Shisha zu rauchen – nur eben ohne Hasch. | |
| Polizist Rindfleisch ist mit seinem Auftritt zufrieden: „Wir versuchen, | |
| mögliche Konflikte schon im Voraus zu entschärfen“, sagt er. „Wäre doch | |
| ärgerlich, wenn jemand wegen eines falschen Straßenbahntickets eine Strafe | |
| kassiert.“ | |
| Stabilisiert werden soll so auch die Stimmung im Ort selbst. Natürlich | |
| stärke die sexuelle Gewalt von Köln rechtsextreme und rechtspopulistische | |
| Parteien wie NPD und AfD, meint der Streifenbeamte. „Immerhin hat in | |
| Gleidingen noch niemand zur Gründung einer Bürgerwehr aufgerufen wie etwa | |
| in Hannover oder Hamburg“, sagt er – und hilft einer Bürgerin, die gerade | |
| vorgefahren ist, Kleiderspenden ins Heim zu tragen. | |
| ## Wunsch nach Normalität | |
| Es sind diese kleinen Gesten, die den Bewohnern Mut machen. „Unheimlich | |
| gefreut“ habe sie, sagt Sozialarbeiterin Hendricks, dass auch nach den | |
| Vergewaltigungsvorwürfen Nachbarinnen vorbeigekommen seien, um ihre Hilfe | |
| anzubieten. „Das zeigt doch, dass die Leute in Gleidingen eben nicht alle | |
| Flüchtlinge über einen Kamm scheren.“ | |
| Normalität wünscht sich auch der 24 Jahre alte Mohammed al-Mohammed. „Wir | |
| sind vor dem Krieg geflohen“, erklärt er. „Wir suchen hier Sicherheit, | |
| gehen jeden Tag zur Schule, versuchen, schnell Deutsch zu lernen und dann | |
| eine Arbeit zu finden. Wir sind nicht hier, um Probleme zu machen.“ | |
| 16 Jan 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Andreas Wyputta | |
| ## TAGS | |
| Flüchtlinge | |
| Hannover | |
| Brandanschlag | |
| Unterbringung von Geflüchteten | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| Schwerpunkt Rechter Terror | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| Kühne und Nagel | |
| Prozess | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| Reeperbahn | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| Leipzig | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| Flüchtlinge | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| Schwerpunkt Angela Merkel | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Grüne über Angriffe auf Flüchtlingsheime: „Dann stimmt das System nicht“ | |
| Anschläge auf Unterkünfte von Geflüchteten müssen ernster genommen werden, | |
| verlangt Irene Mihalic. Sie fühlt sich an die NSU-Affäre erinnert. | |
| Anschlag: Schüsse auf Geflüchtete | |
| Im emsländischen Lingen hat ein junger Mann auf Geflüchtete geschossen und | |
| dabei ein fünfjähriges Kind verletzt | |
| Anschlag auf Flüchtlingsunterkunft: Mit scharfer Handgranate | |
| In Baden-Württemberg kam es zur Attacke auf ein Flüchtlingsheim – mit einer | |
| Handgranate. Justizminister Maas spricht von einer „neuen Qualität der | |
| Gewalt“. | |
| Entwürfe Kühne+Nagel-Grundstück: „taz bemüht sich“ | |
| Der Logistik-Konzern Kühne+Nagel will den Firmensitz erweitern, die taz an | |
| „Arisierungs“-Profit erinnern. Für beides liegen nun Entwürfe vor. | |
| Brandanschlag auf Flüchtlingshaus: Nun doch Anklage wegen Mordes | |
| Im Oktober zündeten zwei Männer ein von Flüchtlingen bewohntes Haus an. Die | |
| Staatsanwaltschaft sah darin nur schwere Bandstiftung. Das Gericht sieht | |
| das anders. | |
| Debatte Neuer Feminismus: Auf der Kippe | |
| Seltsame Allianzen gibt es nach der Kölner Silvesternacht. Gegen | |
| (antimuslimischen) Frauenhass hilft aber nur ein neuer Feminismus. | |
| Fahndungserfolg in Hamburg: Haftbefehle nach Silvester-Übergriffen | |
| Nach der Veröffentlichung von Fahndungsfotos nimmt die Polizei zwei | |
| Afghanen fest. Sie sollen Frauen gemeinschaftlich sexuell genötigt haben. | |
| Wie vor 20 Jahren: Es brennt | |
| 20 Jahre nach dem Anschlag von Lübeck brennen wieder | |
| Flüchtlingsunterkünfte. Nach Bekanntwerden von sexuellen Übergriffen kippt | |
| die Stimmung. | |
| Großangriff auf einen Stadtteil: Der Kampf um Connewitz | |
| Über 200 Neonazis nehmen Leipzigs Alternativviertel Connewitz auseinander. | |
| Der Angriff läutet eine neue Ära ein. | |
| Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte: Rassisten zündeln, Steinmeier warnt | |
| Im Bau befindliche Flüchtlingsunterkünfte sind auch an den Feiertagen Ziel | |
| von Angriffen. Der Außenminister warnt vor Stimmenfang mit dem | |
| Flüchtlingsthema. | |
| Rechte Gewalt am Wochenende: Brände, Hetze und Protest | |
| Erneut haben mehrere Flüchtlingsunterkünfte gebrannt. In Freital gab es | |
| Morddrohungen, in Bad Bevensen dagegen eine Demo gegen rechts. | |
| Herxheim in Rheinland-Pfalz: Erneut Feuer in Flüchtlingsunterkunft | |
| Zum zweiten Mal in einer Woche hat es in einer Flüchtlingsunterkunft im | |
| pfälzischen Herxheim gebrannt. Die Staatsanwaltschaft ermittelt. | |
| Flüchtlingshelfer an der Belastungsgrenze: Wer hilft eigentlich wem? | |
| Erfüllen ehrenamtliche Flüchtlingshelfer das Diktum der Bundeskanzlerin | |
| oder tun sie, was getan werden muss? Die Unterstützerszene ist gespalten. | |
| Brandanschläge auf Unterkünfte 2015: Hundertzweiundzwanzig Mal Hass | |
| Mindestens 122 Brandanschläge wurden 2015 auf Unterkünfte für Geflüchtete | |
| verübt. Im Schnitt jeden dritten Tag einer. Eine Liste. |