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# taz.de -- Debatte Neuer Feminismus: Auf der Kippe
> Seltsame Allianzen gibt es nach der Kölner Silvesternacht. Gegen
> (antimuslimischen) Frauenhass hilft aber nur ein neuer Feminismus.
Bild: Niemand sagt, dass es leicht wird
Ich habe in den vergangenen Wochen einiges über mein Land erfahren, das ich
lieber nicht gewusst hätte. Das klingt arg unpolitisch, ich weiß. Aber es
ist bei mir ein Bedürfnis nach Selbstschutz aufgekommen, angesichts der
rasanten Verrohung dessen, was öffentliche Debatte zu nennen ein
Euphemismus ist.
Frauen, die eine falsche Meinung äußern, werden im Netz mit Gewaltfantasien
überschwemmt. Gruppenvergewaltigung als Erziehungsmittel, wenn du nicht
einstimmst in den anti-islamischen Sound. Eine Frau, die vom Kölner
Hauptbahnhof berichtete, sie sei von arabisch aussehenden Männern
respektvoll behandelt worden, muss sich anhören: Weil du zu alt und zu
hässlich bist, du Schlampe. So kommt das massenhaft jetzt.
Ich hatte nicht gewusst, dass es sich so anfühlt, wenn Frauenhass auf der
antiislamischen Überholspur fahren darf.
Ich hatte mir nicht vorstellen können, dass sich der Hass sogar an einer
Frau wie Nariman Reinke entladen würde: in Hannover geborene Tochter
marokkanischer Einwanderer, 36 Jahre, bei der Bundeswehr im Bataillon
Elektronische Kampfführung tätig, war in Afghanistaneinsätzen, ist
Vizevorsitzende eines Vereins Deutscher Soldat e. V. Sie schreibt: „Hier
noch mal für alle: Nein, ich kann es trotz meines Migrationshintergrunds
und meiner Religion nicht nachvollziehen, wenn Frauen vergewaltigt werden –
egal von wem. Die Annahme, dass ich es könnte, ist ein Abgrund menschlicher
Dummheit.“ Geht man all die Kommentare dazu durch, wird schnell klar: Frau
Reinke wird nicht trotz ihrer Superintegriertheit gehasst, sondern
deswegen. Eine Frau in Uniform, die sich nicht unterwirft.
## Respektlos statt kritisch
Wie würde ich mich fühlen, in diesen Tagen, in diesem Land, wenn ich
Muslimin wäre? Ich würde lesen, zum Beispiel in dieser Zeitung, dass ich
für meine Religion nur ein „Zeugungsbehältnis“ bin, und ich würde mich
vermutlich übergeben. Die gegenwärtige Debatte über den Islam als
Belästiger- und Grabscherreligion ahmt genau das nach, was sie zu
kritisieren vorgibt: Sie ist zutiefst respektlos gegenüber den Frauen, die
dieser Religion angehören, gegenüber Millionen stolzer und hochgebildeter
Musliminnen. Ob sie so geworden sind trotz ihrer Religion oder durch ihre
Religion, dazu kann jede eine andere Geschichte erzählen. Kaum eine klingt
so wie bei den neuen deutschen Hobbyarabisten.
Und ja: Ich bin auf meinen Reisen durch muslimische Länder fast nie
belästigt worden; ich erinnere mich an zwei Vorfälle innerhalb von 17
Jahren. Die Abwesenheit von Alkohol im öffentlichen Raum empfand ich stets
als Schutz, konkret: die Abwesenheit alkoholisierter Männerbünde.
Theoretisch hätte man nach Köln auch eine Generaldebatte beginnen können,
wer unter der Zunahme öffentlichen Saufens leidet. Wie gesagt: rein
theoretisch.
Haben wir uns nicht früher oft gefragt, wie in heiklen historischen
Momenten diese überschießenden Massenerregungen entstehen konnten? Der
Thronfolger erschossen, und dann ein Weltkrieg? Die Juden galten noch als
privilegiert, als ihre Geschäfte brannten. Das war Geschichte. Moderne
Gesellschaften würden so nicht mehr funktionieren, mit ihrer vielstimmigen
Öffentlichkeit. Ist es so?
Man kann in diesen Tagen beobachten, wie schnell konvulsive Stimmungen
entstehen und wie rasch ein Geschehen, noch bevor Genaues bekannt ist, zu
einer ideologischen Lawine wird. Ein Naturereignis ist das nicht. Gewiss,
was sich im Netz abspielt, ist nicht zu steuern. Aber warum verweigern sich
die meisten Redaktionen und Moderatoren nicht der Eskalationsspirale? Woher
kommt die Lust am grafisch-peppigen Rassismus, bis hin zum Wiener Falter?
Und was treibt diesen irren Galopp der Verallgemeinerungen an? Kaum zu
toppen der Titel des Economist: „Crossing the line – Migrant men, European
women and the cultural divide“. Das klingt wie eine epische Zeile über den
neuen Krieg. Mir wird kalt.
Gerade wird Hitlers „Mein Kampf“ in der einhegend kommentierten Neuausgabe
rezensiert. Wenn jemand sagt, die Muslime seien die Juden von heute, zucke
ich zusammen, weil der Vergleich den Judenmord grotesk verharmlost. Aber
eines fällt mir in diesen Tagen auf: Ein Erlösungswahn, wie er den
damaligen Antisemitismus befeuerte, findet sich auch im jetzigen Islamhass.
Alles in Deutschland wäre besser ohne die Muslime, heißt es wieder und
wieder im Netz. Und das zielt keineswegs nur auf Flüchtlinge. Auch der
Berufssoldatin Reinke wird gesagt: Alles besser ohne solche wie dich.
„Adolf, komm zurück.“
## Neue Allianzen
Was tun? Ich habe den [1][Aufruf #ausnahmslos] früh unterzeichnet:
„Frauenrechte sind kein Vorwand für Rassismus.“ Es ist nötig, einen
Feminismus der Einwanderungsgesellschaft zu entwickeln, mit neuen Allianzen
– und mit einer Vision von Emanzipation, die über die Grenzen von Religion,
Hautfarbe und Lebensstil hinweg verbindend sein könnte. Darüber habe ich
schon „vor Köln“ geschrieben; jetzt scheint ein fortschrittlicher und
antirassistisch argumentierender Feminismus noch dringender.
Eine Allianz von Musliminnen (auch praktizierenden) und Nichtmusliminnen
wäre neu. Es sind ja keineswegs nur Männer, die religiös lebenden
Musliminnen Unterwerfung nachsagen. Und der Komplex „Flüchtlinge und die
Frauenfrage“ ist doppelt sensibel: weil Helferinnen, wie in allen
Ehrenämtern, zahlreicher sind als Helfer. Und weil, weit über den Kreis der
Engagierten hinaus, viele Frauen derzeit gefühlsmäßig an einer Wegscheide
stehen: Sie haben einerseits Verständnis und Mitleid für die Gestrandeten,
fürchten andererseits zunehmend deren Zahl und Kultur.
Mir scheint, dass wir im Augenblick in einer sehr fragilen Situation sind.
Es kommt auf jeden Einzelnen an: Möge er oder sie versuchen, psychisch und
intellektuell auf Abstand zu gehen, auf Abstand zu diesem Karussell
öffentlichen Wahnsinns.
Doch, ich habe Angst. Ungarn, Polen, darauf haben wir noch mit Befremden
geblickt. Nicht unseres, was da passiert. Der Rechtsruck der anderen. Aber
was, wenn Deutschland kippt?
23 Jan 2016
## LINKS
[1] /Feministische-Kampagne-nach-Koeln/!5268113
## AUTOREN
Charlotte Wiedemann
## TAGS
Schwerpunkt Rassismus
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