| # taz.de -- Die Grünen und ihr Dauertief: In der Zehn-Prozent-Nische | |
| > Die Ökopartei buhlt seit gut zwei Jahren um die Gunst konservativer | |
| > Wähler. Trotzdem stagniert sie in den Umfragen. Warum ist das so? | |
| Bild: Die Neujahrsklausur findet vom 6. bis 8. Januar in Weimar statt | |
| Die Grünen sind unglücklich verliebt. Sie werben um die Gunst des | |
| konservativen Bürgertums, sie flirten auf Teufel komm raus, aber die | |
| Gutbürgerlichen zeigen ihnen die kalte Schulter. | |
| Nur 9 bis 10 Prozent der Deutschen würden die Grünen wählen. Wenn am | |
| Sonntag Bundestagswahl wäre, würden die Grünen fast so schlecht abschneiden | |
| wie bei ihrem Wahldebakel 2013, das vom Veggieday, der Pädophilie-Debatte | |
| und linksgrüner Steuerpolitik geprägt war. Die Umfragewerte der | |
| Bundesgrünen wirken seither wie festgefroren, die Partei sitzt seit zwei | |
| Jahren in der 10-Prozent-Nische. In der Politik ist das eine halbe | |
| Ewigkeit. | |
| Die Stagnation ist bemerkenswert, weil sie eine beliebte Theorie widerlegt: | |
| Die Grünen könnten stark wachsen, vielleicht eine kleine Volkspartei | |
| werden, wenn sie in CDU-Milieus ausgreifen. Die dominierenden Figuren der | |
| Grünen im Bund, Cem Özdemir und Katrin Göring-Eckardt, haben sich diesem | |
| Ziel verschrieben. | |
| Auch Winfried Kretschmann, der Baden-Württemberger, ist davon überzeugt – | |
| und sehr erfolgreich. Wie passt das zusammen? Warum funktioniert grüner | |
| Konservatismus in Stuttgart, aber nicht im Bund? Haben Angela Merkels | |
| Wähler einfach nicht verstanden, dass die Grünen den Kommunismus nicht | |
| einführen werden, ja nicht mal das vorgestrige Ehegattensplitting | |
| abschaffen würden? | |
| ## Schweigen für die Wiederwahl | |
| Was haben die Grünen seit 2013 nicht alles versucht, um neue WählerInnen zu | |
| locken. Sie sagten sich per Parteitagsbeschluss vom Veggieday los, einem | |
| Nonsens-Thema, das seinerzeit die Bild-Zeitung hochgezogen hatte, die | |
| Springer-Leute dürften sehr gelacht haben. Die Grünen zettelten | |
| Metadebatten über Freiheit an, um in der Erbmasse der FDP zu wildern. Sie | |
| wollten die neue Wirtschaftspartei Deutschlands werden, wahlweise auch die | |
| neue Mittelstandspartei. | |
| Inhaltlich zoomten die Grünen an die Interessen des gut situierten | |
| Bürgertums heran, indem sie sich auf gutes Essen, faire Landwirtschaft und | |
| eine okaye Work-Life-Balance konzentrierten. Auf alles also, was den gut | |
| verdienenden Rechtsanwalt in Freiburg interessiert. Fragen, die den Grünen | |
| bis 2013 wichtig waren, tauchen bei Kretschmann, Özdemir und Göring-Eckardt | |
| nicht mehr auf. | |
| Ob der Staat Reiche stärker belasten muss, um die sozialökologische Wende | |
| zu bezahlen, zum Beispiel. Oder ob Grüne einen Gesellschaftsentwurf | |
| vertreten sollten, der die Bedürfnisse Unterprivilegierter mitdenkt. Die | |
| neuen Grünen ersparen sich solche Debatten, weil sie vermuten, dass das | |
| Interesse der Mittelschicht an ehrlichen Antworten überschaubar ist. Sie | |
| schweigen, weil sie die Wiederwahl von Kretschmann im März nicht gefährden | |
| wollen. Jede linke Konturierung im Bund, so die Befürchtung, könnte dem | |
| Regierungschef in Stuttgart schaden. | |
| ## Rückhaltlose Bewunderung statt Widerspruch | |
| Wenn einer Oppositionspartei die Angriffslust abhandenkommt, tut ihr das | |
| meist nicht gut. Der Auftritt der Grünen hat etwas beflissen Konturloses. | |
| Sie wirken wie ein Mensch, der es sich mit keinem verscherzen will, was oft | |
| nicht besonders sympathisch ist. Interessanter aber ist die Frage, warum | |
| ihnen die Umarmung der Mitte keine Prozentpunkte beschert. Viele von | |
| Merkels Wählern pflegen ja längst einen grünen Lebensstil mit Biofood, | |
| Ökostromvertrag oder Lastenfahrrad. | |
| Ein Grund für das 10-Prozent-Dilemma ist, dass urgrüne Themen im Moment | |
| keine Rolle spielen. Der Klimawandel, die Energiewende oder Bioessen, ja, | |
| alles wichtig. Aber angesichts von Großkrisen in Europa und der Welt, | |
| angesichts von Millionen Flüchtlingen und anstehenden Verteilungsfragen | |
| wirkt das doch arg nebensächlich. Wenn das Elend vor der Haustür steht, | |
| denkt die bürgerliche Mitte pragmatisch. Darum soll sich jemand kümmern, | |
| bitte schnell. Im Bund sind die Volksparteien die Kümmerer, aber sicher | |
| nicht die Grünen. | |
| Das Dauertief liefert auch einen Hinweis darauf, dass die rückhaltlose | |
| Bewunderung der Kanzlerin, die die Grünen gerade kultivieren, nicht | |
| funktioniert. Özdemir und Kretschmann loben Merkel bei jeder Gelegenheit | |
| für ihre Haltung in der Flüchtlingskrise. | |
| Sie tun das in der Hoffnung, auf der richtigen, weil: weltoffenen Seite zu | |
| stehen. Dabei löst Merkel das Problem längst auf ihre eigene, dialektische | |
| Art. Ihre Wir-schaffen-das-Rhetorik klingt liberal, aber faktisch gibt sich | |
| die Kanzlerin Mühe, Europas Außengrenzen abzuschotten. Es wäre die Aufgabe | |
| der Opposition, diesen Widerspruch offenzulegen. Stattdessen machen sich | |
| die Grünen zu Kronzeugen von Merkels Scheinliberalität. | |
| ## Die Nähe zur Kanzlerin | |
| Und die Wähler? Die, die Merkels Willkommenskultur für echt halten, wählen | |
| Merkel. Die, die ihre Dialektik gut finden, wählen Merkel. Und die, die | |
| sich einen ganz anderen Ansatz wünschen, finden ihn jedenfalls nicht mehr | |
| bei den Grünen. Winfried Kretschmann kopiert Merkels Politikstil in | |
| Baden-Württemberg übrigens sehr erfolgreich, indem er regiert, wie es ein | |
| moderner Christdemokrat tun würde. | |
| Er setzt auf eine behutsame Modernisierung des Landes, vor allem aber auf | |
| den Erhalt des Status quo. Kretschmann kämpft für die Interessen von | |
| Konzernen wie Daimler, er schützt die Finanzeliten bei der Erbschaftsteuer. | |
| Er lässt die Finger von Tabus für die Mittelschicht, siehe Gymnasium. Und | |
| er hat verstanden, dass das Bürgertum bei allem Wohlwollen auch Angst vor | |
| zu vielen Flüchtlingen hat. | |
| Diese Strategie geht auf – in einem konservativ grundierten, reichen | |
| Bundesland und gegen eine gestrig wirkende CDU mit einem blassen | |
| Kandidaten. Manch Bundesgrüner würde dieses Modell gerne auf Berlin | |
| übertragen, erste Versuche sind zu besichtigen. Doch hier sieht das Setting | |
| völlig anders aus. | |
| Die Grünen sind in der Opposition, ihre Wählermilieus unterscheiden sich | |
| stärker voneinander, die Inhalte müssen fürs ganze Bundesgebiet taugen. Vor | |
| allem aber ist der Platz der modern wirkenden Konservativen schon lange | |
| besetzt. Merkel macht in der Hinsicht keiner was vor. | |
| Anders gesagt kann Kretschmann Merkel gut finden, weil das auf seinem Konto | |
| einzahlt. Die Bundesgrünen aber dürfen sich bei ihrem Werben um die Mitte | |
| nicht in den Schatten der Kanzlerin ducken. Sie laufen Gefahr, links Wähler | |
| zu verlieren, während Merkels Wähler dann doch lieber beim Original | |
| bleiben. Die 10 Prozent belegen, wie groß dieses Risiko ist. | |
| 8 Jan 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrich Schulte | |
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