# taz.de -- Arbeitsmigration in Armenien: Im Dorf der Frauen | |
> Für viele Männer bietet Armenien keine Perspektive, sie gehen in Russland | |
> arbeiten. Zurück bleiben Frauen, Alte und Kinder. Ein Familienbesuch. | |
Bild: Drei Generationen, eine Familie, kein Mann: Großmutter Swjeta Manukjan, … | |
KRASCHEN taz | Die Besucher treiben Lusine Manukjan die Blässe ins Gesicht. | |
Die Wäsche fällt ihr aus der Hand. Eben hat das Auto vor ihrem Haus | |
gehalten, zwei Männer sind ausgestiegen und haben sich nach der Familie | |
Manukjan erkundigt. Das hat Lusine zutiefst erschreckt. Ins Dorf Kraschen, | |
umgeben von hohen Bergen im Nordwesten Armeniens, kommt niemand zufällig. | |
Besuch ist selten geworden. „Ich dachte, dass es wieder die Leute von der | |
Bank sind“, sagt die 29-jährige Lusine Manukjan und wirkt erleichtert. Dann | |
öffnet sie die Tür und bittet den Reporter und den Fahrer herein. | |
Sie war 22 Jahre alt, als sie aus einem Nachbardorf nach Kraschen gezogen | |
ist, um eine Familie zu gründen, beginnt Manukjan zu erzählen. Kraschen | |
liegt 18 Kilometer nordöstlich von Gjumri, das zu Sowjetzeiten Leninakan | |
hieß. Gjumri ist mit etwa 170.000 Einwohnern nach Jerewan die zweitgrößten | |
Stadt Armeniens. Der Weg nach Gjumri führt über nahezu zerstörte Straßen | |
und zieht sich mit dem Auto ein halbe Stunde lang hin. Offiziell hat | |
Kraschen 250 Einwohner, tatsächlich wohnt hier aber kaum noch die Hälfte. | |
Im Dorf leben fast nur noch Frauen. Nahezu alle männlichen Einwohner | |
arbeiten als Gastarbeiter in Russland. Viele haben ihre Familien | |
nachgeholt. | |
Schon als sie ihren Mann geheiratet hatte, erzählt Lusine Manukjan, wusste | |
sie, dass er nur wenige Monate im Jahr bei ihr sein würde. Und auch zwei | |
ihrer Brüder sind zum Arbeiten nach Russland gegangen. „Fast alle Männer | |
haben unsere Gegend verlassen“, klagt sie. Ihr Mann Zohrab ist 35 Jahre alt | |
und verlegt gemeinsam mit seinem Cousin Kopfsteinpflaster auf den Straßen | |
und Wegen Moskaus. | |
Auf seine Geldüberweisungen warten seine Frau Lusine, die beiden Töchter | |
Swjeta und Sofia und Zohrabs Eltern immer ungeduldig. Etwa 200 Euro im | |
Monat hat er nach Hause geschickt. In diesem Jahr war es allerdings | |
deutlich weniger. „Wegen der Rubelabwertung hat sich unser Einkommen | |
praktisch halbiert“, erklärt Lusine. Musste man im Sommer 2014 für einen | |
Dollar 35 Rubel zahlen, sind es jetzt 70, Tendenz steigend. | |
## Ein Autounfall mit Folgen | |
Wenn Zohrab zum Jahresende zu seiner Familie zurückkommt, fährt er die | |
nächsten Monate Taxi. Dafür hat er vor einigen Jahren ein Auto gekauft. Für | |
die Familie war es der Beginn eines Fiaskos. „Auf der Dorfstraße hatte | |
Zohrab einen schweren Unfall“, erzählt Lusine Manukjan. „Wir sind dann zur | |
Bank gegangen, um das Geld für Zohrabs Operation und für die Autoreparatur | |
zusammenzubekommen.“ Doch sie hatten dann Schwierigkeiten, den Kredit | |
zurückzuzahlen. | |
Lusine ging zur nächsten Bank, weil sie mit dem zweiten Kredit den ersten | |
ablösen wollte. Dann aber musste sie noch einen weiteren Kredit aufnehmen, | |
um die beiden ersten zu bedienen. Das hat alles nicht richtig geklappt. | |
„Jetzt haben wir umgerechnet 7.000 Euro Schulden bei fünf Banken“, rechnet | |
sie zusammen. | |
Während Lusine Manukjan spricht, betritt ihre Schwiegermutter Swjeta das | |
Haus, in der Hand einen Eimer. Eben hat sie die Kühe gemolken. Morgens und | |
abends geben die Tiere etwa sieben Liter Milch. Für die Familie sind das | |
zusätzliche Einkünfte. Die Molkereien kaufen die Milch und holen sie ab. | |
„Sie zahlen uns viel zu wenig. Im Geschäft ist die Milch viermal so teuer | |
als der Preis, den wir bekommen“, ärgert sich die 62-Jährige. | |
## Umgerechnet dreißig Euro Rente | |
Nicht allein ihr Sohn Zohrab verdient sein Geld in Russland, sondern auch | |
zwei ihrer Schwiegersöhne. Es ist damit genau das eingetreten, was sie am | |
wenigsten gewollt hatte – die Familie ist zerrissen. „Aber was können die | |
Männer hier in den Dörfern schon tun? Im Kuhstall arbeiten? Das machen wir | |
sowieso schon und können trotzdem kaum davon leben“, seufzt die Alte, deren | |
Hände aufgerissen und schwarz vor Arbeit sind. Ihr Traum? Endlich in Rente | |
zu gehen. Im nächsten Jahr wird sie 63 und bekommt dann umgerechnet etwa 30 | |
Euro Rente. „Damit ich mir über die monatlich zehn bis fünfzehn Euro für | |
Strom nicht den Kopf zerbrechen muss.“ Dann gibt sie ihrer Schwiegertochter | |
ein Zeichen, nach dem Herd zu sehen. | |
Lusine Manukjan füttert das Feuer mit Zapfen. Auf dem Herd kocht sie Essen | |
und siedet das Wasser, um die Kinder zu baden. Auf dem Boden stehen ein | |
Trog voll Zapfen und eine Schüssel mit Walnüssen. Beides hat sie im Wald | |
gesammelt. Doch die Zapfen allein reichen nicht, um der Kälte zu trotzen. | |
Das wichtigste Heizmaterial für das kleine Fertigteilhaus ist Mist. | |
„Das hier sollte einmal nur eine provisorische Unterkunft nach dem großen | |
Erbeben von 1988 sein“, erzählt die Schwiegermutter und deutet auf die | |
Gipskartonwände. „Aber bis heute hat die Regierung das Wohnungsproblem | |
nicht gelöst“, schimpft sie. Als am 7. Dezember 1988 die Erde bebte, hat | |
sie ihre Kinder eigenhändig aus den Ruinen gezogen. Mindestens 25.000 | |
Menschen sind damals ums Leben gekommen. | |
## Das Erdbeben von 1988 ist immer noch nicht bewältigt | |
Über eine Million waren ohne Obdach. „Tausende Erdbebenopfer sind noch | |
immer ohne Unterkunft. Wir haben das auch im Fernsehen zum Thema gemacht. | |
Aber es ist hoffnungslos“, klagt Lusine Manukjan. Was tun? Sie haben zwei | |
Zimmer an das Haus angebaut und alles notdürftig renoviert. Doch bei Regen | |
und Schnee tropft es von der Decke. Ihre Töchter stellen dann Eimer und | |
Schlüsseln auf. | |
Die Mädchen, vier und fünf Jahre alt, kommen bald in die Schule. „Aber | |
nicht in unserem Dorf!“, schwört Lusine Manukjan. „Diese Schule besuchen | |
nur noch sieben Kinder! Eins ist in der dritten, eins in der vierten | |
Klasse“, zählt sie auf. „Aber sie haben alle gemeinsam Unterricht in einem | |
Klassenzimmer.“ Daher werde sie ihre Töchter ins Nachbardorf, wo noch etwa | |
60 Kinder leben, zur Schule schicken. Der Weg dorthin dauert eine halbe | |
Stunde. | |
Mitten in den Bergen, eineinhalb Stunden vom Dorf entfernt, versteckt sich | |
eine uralte kleine Kirche. Sie steht für die andere Vision, die Lusine hat. | |
„Wenn man mit einem Traum in diese Kirche geht, wird er sich erfüllen“, | |
erzählt Lusine Manukjan – und wird rot. Denn eben hat sie an ihren Traum | |
gedacht. Sie wünscht sich einen Sohn und wohl auch, dass er dann nicht mehr | |
nach Russland muss, wenn er groß ist und Arbeit sucht. | |
## Hagebutten als Verkaufsschlager | |
Manukjan wendet auf dem Esstisch Hagebutten, die schon fast getrocknet | |
sind. Ein paar hat sie für die Familie behalten. Auf dem Markt in Gjumri | |
hat sie in diesem Herbst etwa 40 Kilogramm verkauft. „Die Leute schätzen | |
den Geschmack der roten Beeren, die hoch in den Bergen wachsen“, erzählt | |
sie. Umgerechnet 50 Cent bringe ihr das Kilo. Immer sei alles in wenigen | |
Stunden verkauft. | |
Weder die Dornen der Hagebuttensträucher noch die Spinnen, die darin | |
lauern, stören sie. In die Berge, wo die größten Hagebuttensträucher | |
wachsen, geht sie aber nicht. „Dort leben Wölfe“, erzählt sie. Das Sammeln | |
sei zu gefährlich. Weil der Hagebuttenverkauf so gut läuft, wollten Lusine | |
und ihre Schwiegermutter auch Pilze verkaufen. Doch das hat nicht | |
funktioniert. „Die Pilzen faulen sehr schnell“ bedauert Lusine. „Und wir | |
können sie nicht innerhalb eines Tages in der Stadt verkaufen.“ | |
Sogar die Füchse machen den Menschen hier in den Bergen Konkurrenz. Sie | |
räubern die Hühnerställe aus. Neulich mussten sie sogar mit einem Fuchs um | |
ein Hühnchen kämpfen, erzählt Swjeta. Ihr Mann schleuderte den Fuchs, der | |
das geraubte Hühnchen mit dem Maul festhielt, mit aller Kraft gegen die | |
Wand. Die Beute riss entzwei, der Fuchs konnte mit dem halben Hühnchen | |
flüchten. Die andere Hälfte nahm Swjeta mit nach Hause. „Es war ohne Kopf | |
und mit nur einem Bein, die Innereien quollen heraus“, erzählt Lusine | |
Manukjan und lacht laut. Die Kinder wiederholen die Worte der Mutter und | |
hüpfen dabei vor Spaß auf einem Bein. | |
## Das Hühnchen in der Suppe | |
Während Manukjan das erzählt, hat ihre Schwiegermutter in einem Topf auf | |
dem Herd gerührt. Am Abend will die Familie ein traditionelles Essen mit | |
Hühnchen auftischen. „Nein, das ist nicht das Tier, das der Fuchs im Maul | |
hatte“, versichert die alte Swjeta und versucht, den Blick ihrer | |
Schwiegertochter zu vermeiden. Heute habe sie selbst zwei Hühnchen | |
geschlachtet, beteuert sie. | |
Beide Frauen sind merklich unruhiger geworden. Die eine schaut immer wieder | |
auf die Uhr, die andere aus dem Fenster. Wo bleibt der Schwiegervater? Er | |
müsste längst zu Hause sein. Da klingelt endlich das Handy. Man kann seine | |
erregte Stimme hören: Er kann zwei der Hühnchen nicht finden! Sollte etwa | |
der Fuchs wieder ...? „Komm nach Hause“, beruhigt ihn seine Frau Swjeta. | |
„Diesmal war ich im Stall und habe die Hühner geholt.“ | |
24 Dec 2015 | |
## AUTOREN | |
Tigran Petrosyan | |
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