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# taz.de -- Armenien und seine Ballettschulen: Tanzen für die Heimat
> Balletttänzer aus Armenien sind auf den Bühnen der Welt begehrt. Doch in
> der Talentschmiede in Jerewan sind die Tanzböden morsch.
Bild: Von Jerewan auf die großen Bühnen der Welt: Arshak Ghalumyan (Mitte) be…
Berlin/Jerewan taz | Als Arshak Ghalumyan im vorigen Jahr zum ersten Mal
nach elf Jahren in seine Heimat gereist ist, wurde er auf dem Flughafen
Jerewan sofort festgenommen. Es war der 8. Juli 2014, der Tag, an dem die
deutsche Nationalmannschaft bei der Fußballweltmeisterschaft 7:1 gegen
Brasilien gewonnen hat. Das Fußballspiel habe er sich dann bei der Polizei
anschauen können, erzählt Ghalumyan und lacht. Der Tänzer sitzt am Rand der
Probebühne der Deutschen Oper in Berlin. Eben noch hat er vor der großen
Spiegelwand Sprünge geübt. Jetzt braucht er eine Pause.
Seit 2004 gehört der 30-jährige Armenier zum Ensemble des Staatsballetts
Berlin. Seitdem ist er mit ihm als Solotänzer um die Welt gereist, von
Mexiko bis nach Japan, doch in seine Heimat Armenien ist er lange nicht
zurückgekehrt. Der Grund: Er wollte zum Ballett.
Bevor er 18 Jahre alt wurde, musste er seine Heimat verlassen, erzählt
Ghalumyan. Andernfalls hätte er seine Ballettschuhe bald gegen
Militärstiefel tauschen müssen – das Ende aller Ballettträume. In Armenien
gilt für Männer eine zweijährige Wehrpflicht. Erst nach seinem 27.
Geburtstag konnte Ghalumyan daran denken, in die Heimat zurückzukehren und
das auch erst, nachdem er die umgerechnet 3.500 Euro Strafe dafür
überwiesen hatte, dass er wegen der Wehrpflicht ins Ausland gegangen war.
Das erste Mal wagte er es im Sommer 2014 – und wurde trotz der Strafzahlung
auf dem Flughafen festgehalten. „Der Fahndungsdienst hatte vergessen, das
zu registrieren“, lacht Ghalumyan, steht auf und beginnt wieder zu tanzen.
Ab und an singt er dabei im Takt laut mit.
## Tybalt, Rotbart und Mäusekönig
Wer Ghalumyan tanzen gesehen hat, erkennt ihn immer wieder. Er ist nicht so
athletisch wie viele seine Kollegen, es ist die Eleganz, die seinen Tanz
einzigartig macht. Ghalumyan ist der Tybalt in „Romeo und Julia“, der
Mäusekönig im „Nussknacker“ und der Zauberer Rotbart mit mächtigen
schwarzen Schwingen in „Schwanensee“. Auch in den modernen Stücken kleidet
er sich gern in Schwarz. „Das passt zu meinem Charakter am besten“, sagt
Ghalumyan. Durchgeschwitzt und tief atmend hat er sich wieder an den Rand
gesetzt.
Seit August 2014 ist Nacho Duato Intendant des Staatsballetts Berlin. In
seiner Inszenierung „Static Time“ erzählt Duato die Geschichte von einem
Freund, der an Krebs gestorben ist. Ghalumyan verkörpert darin den Tod.
„Während der Proben habe ich viel improvisiert, Nacho Duato hat mir die
Freiheit dazu gegeben“, erzählt Ghalumyan. Duato hatte Ghalumyans Talent
bereits erkannt, als er noch das Madrider Ballett leitete. Er wollte
Ghalumyan damals unbedingt nach Spanien holen, doch der entschied sich für
Berlin. Nun arbeiten die beiden zusammen.
Doch Ghalumyan ist inzwischen auch selbst als Choreograf erfolgreich. Im
Juni 2015 hat er den „Special Prize“ beim „Tanzolymp – International
Choreography Contest“ in Berlin gewonnen. In seinem Stück „Blinder Geist“
erzählt er von einer besonderen Beziehungen zwischen einem Jungen, der
blind ist, und einer Frau, die mit ihren Augen für ihn sieht. Nach dem
Festival hat Ghalumyan einen Auftrag für das kroatische Ballett in Zagreb
erhalten, „Le sacre du printemps“ von Igor Strawinsky zu inszenieren.
Wieder eilt Ghalumyan auf die Bretter. Es läuft gut für ihn. Auch privat.
Mit der Solotänzerin Krasina Pavlova, die aus Bulgarien stammt, lebt er
zusammen in Charlottenburg. Im nächsten Sommer soll Hochzeit sein – in der
armenischen Kirche in Burgas, einem bulgarischen Badeort am Schwarzen Meer.
## Jahre größter Disziplin
Was auf den großen Bühnen in Berlin so leicht und glanzvoll zu bewundern
ist, hat Jahre größter Disziplin erfordert. Nach der Probe zeigt Ghalumyan
auf seinem Smartphone Ballettszenen. „Es gaben auch schwierige Tage“, sagt
er. Oft erinnert er sich an seine Zeit als Eleve in seiner Heimat Armenien.
„Dank meiner Schule in Jerewan beherrsche ich den Balletttanz.“
Arshak Ghalumyan beherrscht ihn nicht nur, er ist ein Meister. Dabei hat
Ballett in Armenien nur eine kurze Tradition. Die Staatliche Tanzschule, wo
neben Volkstanz auch Ballett unterrichtet wird, wurde 1924 gegründet.
Damals war Armenien Teil der Sowjetunion geworden. Die Armenier konnten mit
klassischem Ballett zunächst nicht viel anfangen, doch bald haben sie den
Zauber verstanden und der Armenier Aram Chatschaturjan schrieb die Musik zu
„Spartakus“, einem der berühmtesten Ballette der Sowjetzeit, das 1956
uraufgeführt wurde.
Armenien, ein Land mit knapp drei Millionen Einwohnern, hatseitdem viele
hervorragende Tänzer hervorgebracht – einer von ihnen ist Arshak Ghalumyan.
Auf einem Wohnzimmertisch in Jerewan liegt ein Album, angefüllt mit Bildern
von Ghalumyan. „Eines Tages habe ich Arshak vom Kindergarten abgeholt und
ihn zu einem Theaterstück mitgenommen“, beginnt Ghalumyans Mutter Gayane.
„Da traten auch Balletttänzer auf. Arshak war unglaublich begeistert und
sagte zur mir, dass er auch so tanzen will“, erinnert sie sich. Dabei
sollte er eigentlich Volkstanz lernen. Neun Jahre hat er die Ballettschule
Jerewan besucht.
## Für ein Ticket die Wohnung verkauft
Ghalumyans Eltern sitzen in ihrem Wohnzimmer und reden über den
erfolgreichen Sohn. Sie sind beide 57 Jahre alt, haben zusammen studiert
und arbeiten als Ingenieure. Ihre Wohnung ist neu, die alte haben sie 2002
verkauft, um ihrem Sohn das Ticket nach Lausanne zu finanzieren. Es war
seine zweite Chance, ins Ausland zu gehen. Seine erste hatte er im Jahr
2000, doch seine Mutter war dagegen.
„Es kam ein Angebot aus Sankt Petersburg“, erinnert sich Gayane. „Ich habe
Nein gesagt, weil er in Europa eine bessere Zukunft finden würde.“ Das habe
ihren Sohn damals tief enttäuscht. Mit seinen Eltern hat er tagelang nicht
geredet. Zwei Jahre später kam dann die Einladung aus dem Westen. In
Lausanne sollte Arshak vortanzen. Mit Erfolg. Die Hamburger Ballettschule
unter John Neumeier nahm in auf und gab ihm ein zweijähriges Stipendium.
Sofort nach dem Studium wird er im Jahr 2004 Tänzer im Staatsballett
Berlin.
Ghalumyans Eltern blättern weiter durch das Album. Auf Bildern sieht man
die erste Schritte des Sohnes im Ballett, dann ist der junge Tänzer schon
ein Star auf der Bühne. „Bis in die fünfte, sechste Klasse hat sich Arshak
geschämt zu sagen, dass er zur Ballettschule geht“, beginnt sein Vater Alik
Ghalumyan. „Da die Gesellschaft in Armenien noch sehr traditionell ist,
darf kein richtiger Mann Ballett tanzen“, fährt er fort. „Jetzt aber, wo er
erfolgreich ist, will jeder mit uns befreundet sein.“
## Eine grazile Dame
Aber nicht nur im Familienalbum, auch in der Ballettschule selbst kann man
Fotos von Arshak Ghalumyan sehen. Über den langen Korridor läuft eine alte
grazile Dame, ihr Gang strahlt Stolz und Anmut aus. „Tatevik Asatowna“ –
respektvoll mit Vor- und Vatersnamen sprechen die Schülerinnen und Schüler
die Lehrerin an. Ihre Augen lächeln immer, doch im Unterricht klingt ihre
Stimme schnell fordernd.
An Arshak Ghalumyan erinnert sie sich gut. „Arshak war motiviert, er hat
immer hart gearbeitet. Bei Acht- oder Neunjährigen ist das nicht
selbstverständlich“, sagt sie und fügt hinzu: „Es ist kein Zufall, wenn
jemand auf der internationalen Bühne erfolgreich ist.“ Sie ist im
Übungssaal angekommen, lässt den Blick schweifen. Der Fußboden ist
zerbrochen, es regnet durch das Dach, an der Wand wachsen Wasserflecken. Im
Flur tropfen Heizungsrohre. Einige Räume sind bereits komplett gesperrt.
Tatevik Asatowna muss bei diesem Anblick viel Gleichmut besitzen – und an
das Gute glauben.
Ihre Schüler tanzen heute als Solisten auf den großen Bühnen in München,
Stockholm, Zürich, San Francisco, Chicago, Berlin. Mehr als 20 Absolventen,
alles Männer, machen Karriere. „Die armenischen Männer haben ein starkes
Charisma. Dabei sind sie sehr emotional und musikalisch“, lobt sie ihre
einstigen Eleven. Die 58-Jährige unterrichtet seit fast vierzig Jahren
Ballett – und sie unterrichtet nur Jungen. Doch was, wenn der Boden
durchgebrochen ist? Wenn sich einer der derzeitig 400 Schüler gar verletzt?
## Der Zorn des Intendanten
„Dafür muss sich das Kulturministerium schämen“, schimpft Intendant
Hovhannes Divanyan. „Aber das tut es nicht!“ Divanyan leitet seit mehr als
zwanzig Jahren die Schule, seit 1979 unterrichtet er hier. „Der damalige
Staatschef der Sowjetischen Sozialistischen Republik Armenien hatte einen
guten Geschmack, Verständnis und Intellekt. Seine ausländischen Gäste
sollten in Armenien vor allem das Ballett bewundern. Es war die
Visitenkarte“, rühmt der 63-jährige Choreograf. „Heute gibt es keine
staatliche Unterstützung mehr.“
Noch unterrichten die alten Lehrer, die älteste Lehrerin ist 75 Jahre alt.
Doch was kommt dann? „Wir brauchen Nachwuchslehrer!“, sagt der Intendant.
Seine Hoffnung sind die armenischen Stars auf den europäischen Bühnen.
„Wenn wir das Ballett nicht sterben lassen wollen, sollten wir alles tun,
um die Jungs zurückzuholen“, fährt er fort und endet: „Ich weiß, eines
Tages kommen sie zurück.“
Eine Gruppe ehemaliger Schüler hat den Hilferuf des Intendanten schon
gehört. Es sind Spitzentänzer aus Berlin, München und Stockholm. Sie haben
bereits einen Raum in der Schule auf eigene Kosten renoviert. Und im
vergangenen Jahr sind sie zum neunzigsten Geburtstag der Schule in Jerewan
aufgetreten. Natürlich war Arshak Ghalumyan mit dabei. Es war die Reise,
bei der er auf dem Flughafen verhaftet wurde. Entmutigen lässt sich
Ghalumyan von solchen Überraschungen nicht. Der nächste Plan der
erfolgreichen Tänzer steht schon fest: Für den Ballettnachwuchs wollen sie
eine Meisterklasse gründen.
12 Oct 2015
## AUTOREN
Tigran Petrosyan
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