| # taz.de -- Filmstart „Carol“: Jeder Ort hat sein eigenes Erfordernis | |
| > Todd Haynes übersetzt in „Carol“ queere Geschichten in bewährte | |
| > Erzählmuster. Mit einer grandiosen Cate Blanchett. | |
| Bild: Es ist eine große Kunst, die Nikolausmütze mit Würde zu tragen. | |
| Sicher ist es kein Zufall, dass Carol Aird (Cate Blanchett) an der | |
| Kaufhaustheke einen kleinen Gegenstand vergisst: ein Paar Handschuhe. Sie | |
| sind der Verbindungslink zwischen ihr und Therese Belivet (Rooney Mara), | |
| die als Verkäuferin in der Spielzeugabteilung angestellt ist. | |
| Die Weihnachtszeit hat ihr ein keckes Weihnachtsmannmützchen auf den Kopf | |
| gesetzt; Carol indessen: elegant und teuer gekleidet, eine Glamouröse, ein | |
| bisschen älter als Therese, auch das. | |
| Sehr unterschiedliche Lebensrealitäten sind es, die sich an dieser Kasse | |
| plötzlich gegenüberstehen. Und dennoch (oder gerade deswegen) kommt jenes | |
| gewisse Flirren zustande, das Carol etwas „vergessen“ lässt. Der Gegenstand | |
| ermöglicht eine neuerliche Kontaktaufnahme. Und er ermöglicht auch die | |
| Schaffung eines ersten gemeinsamen Grundes, auf dessen Basis ein Verhältnis | |
| ausgelotet werden kann. | |
| Das ist das Prinzip, dem Todd Haynes gesamter Film folgt: „Carol“ ist eine | |
| ständige Auslotung. Von Plätzen und Orten: Restaurants, Hotels, Geschäften. | |
| Aber auch von Beziehungskonstrukten. Beide bedingen einander. Denn jeder | |
| Ort hat sein eigenes Erfordernis, seine eigene Freiheit beziehungsweise | |
| Beschränktheit. | |
| ## Prinzip wechselnder Orte | |
| Jenes Prinzip der wechselnden Orte, nach denen sich Charaktere nicht nur | |
| ausrichten, sondern nach denen sie auch suchen, um sich selbst anders – | |
| besser, freier – zu erfahren, ist kein neues in Haynes’ Kino. Programmtisch | |
| dafür darf etwa „Safe“ (1995) gelten, der von Carol White (Julianne Moore) | |
| erzählt, einer domestizierten Hausfrau im kalifornischen San Fernando | |
| Valley. Diese Carol wird plötzlich von seltsamen Anfällen geplagt, für die | |
| sich keine medizinischen Ursachen finden. Mittels eigener Recherche stößt | |
| sie jedoch selbst auf den Grund ihres Leidens: eine Art Umweltallergie, | |
| auch unter dem Namen „Twentieth-Century-Disease“ bekannt. | |
| Haynes’ Inszenierung von Wohn- und Ehewelten legt jedoch den Rückschluss | |
| auf eine andere Allergie nahe, die allerdings weder thematisiert noch | |
| kommuniziert werden kann. Carol Whites Rückzug an immer abgelegenere Orte | |
| beginnt, bis sie schließlich, mit Sauerstoffflasche und Spezialkleidung | |
| gerüstet, in ein Camp fernab jeglicher Zivilisation zieht, wo sie in einem | |
| Wohn-Iglu Liebeserklärungen an sich selbst formuliert. | |
| Wechselt Carol White von einer Isolation in die andere, nimmt Carol Aird, | |
| zumindest phasenweise, den Kampf gegen ihre Umwelt auf. Beide Filme haben | |
| viel mit ihrer jeweiligen Zeit zu tun: erstickt White in den übervollen, | |
| giftig-künstlichen 80er Jahren der Reagan-Bush-Ära, hat es Aird mit den | |
| frühen Fünfzigern, Eisenhowers Dämmerung zu tun. | |
| ## Vorzeigegattin | |
| Ganz ähnlich übrigens wie Cathy Whitaker (ebenfalls Julianne Moore) in | |
| Haynes’ „Far From Heaven“ (2002). Auch sie eine Vorzeigegattin der 50er, | |
| die aber nicht nur überraschend mit der Homosexualität ihres Ehemanns Frank | |
| konfrontiert ist, sondern auch mit rassistischen Episoden. In „Carol“ nun | |
| findet ein Tausch des Homosexualität-Vorwurfs statt. In „Carol“ betrifft er | |
| nicht Carols Mann Harge (Kyle Chandler), mit dem sie bereits in Scheidung | |
| lebt und eine gemeinsame Tochter namens Rindy hat, sondern sie selbst. | |
| Als Carol Therese das erste Mal auf ihr prächtiges Anwesen in New Jersey | |
| mitnimmt, treffen beide auf ihn. Fand die Annäherung der Frauen (eben jene | |
| Kaufhaustheke, ein Telefonat, ein Lunch in einem Restaurant in Manhattan) | |
| bisher keine eindeutige Etikettierung, erhält sie sie nun durch Harges | |
| Verdacht. | |
| Denn Carol ist bereits einmal „auffällig“ geworden, als sie eine Affäre m… | |
| Abby Gerhard (Sarah Paulson) begann. Harge, gekränkt und eigentlich auch | |
| auf den Fortgang der Ehe hoffend, beginnt Carol zu drohen: Kann er ihre | |
| Liebschaft beweisen und somit ihre Straffälligkeit, ist es ihm möglich, ihr | |
| das Sorgerecht für Rindy zu entziehen. Dies ist der eigentliche Konflikt, | |
| für den Carol in den Ring zu steigen bereit ist und der Cate Blanchett | |
| einige beachtliche Szenen beschert. | |
| Therese, eine junge Fotografin, befindet sich derweil in einer ganz anderen | |
| Situation. Ihren sexuellen Präferenzen scheint sie sich bis zur Begegnung | |
| mit Carol nicht bewusst gewesen zu sein, gleich auf mehreren Ebenen | |
| bedeutet die aparte Ältere eine Ausleuchtung. Steht Carol vor dem Abgrund | |
| ihrer bisherigen Existenz, sind es für Therese die Vorzeichen einer | |
| Neuausrichtung. Zu verlieren hat sie, zunächst, wenig bis nichts. | |
| Todd Haynes’ „Carol“ ist einer gleichnamigen Erzählung Patricia Highsmit… | |
| entlehnt. Und er ist die bisher glänzendste Fortschreibung eines | |
| Bestrebens, das der Regisseur einmal folgendermaßen zusammenfasste: queere | |
| Geschichten in bewährte Erzählmuster zu übersetzen. In „Carol“ gebrauchen | |
| beide als Vehikel einander. Und zufällig ist daran, wie das vergessene Paar | |
| Handschuhe, rein gar nichts. | |
| 17 Dec 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Carolin Weidner | |
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