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# taz.de -- Mexikanische Journalistin Marcela Turati: „Wir brauchen Solidarit…
> Marcela Turati spricht über die unhaltbaren Zustände in Mexiko und ihre
> persönlichen Erfahrungen mit posttraumatischem Stress.
Bild: Die Berichterstattung um die 43 verschwundenen Studenten beschäftigte Ma…
taz: Frau Turati, Reporterinnen wie Sie sind in Mexiko zunehmend mit den
Folgen der Gewalt konfrontiert: mit Massengräbern, verstümmelten Leichen,
verzweifelten Angehörigen. Wie verändert das Ihre Arbeit?
Marcela Turati: Ich habe mich mein ganzes journalistisches Leben lang mit
Armut beschäftigt. Früher ging ich in indigene Gemeinden, schrieb über
Menschenrechtsverletzungen und Naturkatastrophen. Doch meine Arbeit sieht
völlig anders aus, seit der damalige Präsident Felipe Calderón 2008 massiv
Soldaten in Bundesstaaten entsandte, in denen die Drogenkartelle stark
waren. Die Redaktionen schickten mich in die Regionen, und von einem Tag
auf den anderen wurde ich zur Kriegsreporterin im eigenen Land. Ich sprach
mit Waisen, Witwen und Vertriebenen, schrieb über Feuergefechte und zählte
die Toten. Plötzlich musste ich über 72 ermordete Migranten berichten, die
man in Gräbern fand. Oder über die Mutter, deren achtjähriger Sohn
verschwand.
Wie hat Sie das persönlich verändert?
Ich verfügte schon über eine gewisse Erfahrung, weil ich mit Menschen
gearbeitet hatte, deren Zuhause etwa durch Katastrophen zerstört worden
war. Dennoch wurde ich mit der Zeit immer trauriger, wollte niemand mehr
sehen und nur noch arbeiten. Das waren typische Symptome von
posttraumatischem Stress. Das geht vielen Kolleginnen und Kollegen so: Man
fühlt sich ausgebrannt, es entsteht eine Art Gleichgültigkeit gegenüber dem
Leben.
Wie hält man das aus?
Ich habe eigene Bewältigungsstrategien entwickelt. Ich begann zu
meditieren, besuchte Kurse zum emotionalen Schutz und beteiligte mich an
Treffen von Menschenrechtsorganisationen mit den Angehörigen von
Verschwundenen. Manchmal stelle ich Kerzen auf, wenn ich über die Opfer
schreibe. Oder ich bete für sie. Außerdem arbeite ich inzwischen eng mit
anderen Medienschaffenden zusammen, die ähnliche Erfahrungen machen. Das
hilft sehr.
Aber ans Aufhören haben Sie nie gedacht?
Zunächst nicht. Zwischen 2008 und 2010 schrieb ich ein Buch, weil ich so
viel Fürchterliches gesehen hatte und alles nicht mehr ertrug. Doch als ich
es in Mexiko-Stadt vorstellte, wollte mir niemand glauben. Damals waren die
Opfer beziehungsweise deren Angehörige noch nicht auf die Straße gegangen,
und in der Hauptstadt gab es diese Gewalt nicht. Ich erlebte seltsame
Reaktionen. Manche betrachteten mich als eine Verrückte. Sie empfahlen
mir, zum Psychologen zu gehen und meinten, ich solle die Welt nicht so
schwarz sehen. Später begann ich mich tatsächlich zu fragen, ob ich mich
nicht mal mit anderen Dingen beschäftigen sollte. Im vergangenen Jahr zog
ich mich dann einige Monate aus der Berichterstattung zurück.
Und was bewegte Sie dazu, wieder zu schreiben?
Der Fall Ayotzinapa. Als die 43 Studenten 2014 in Iguala von Polizisten und
Kriminellen verschleppt wurden, dachte ich sofort: Darüber muss ich
berichten. Schließlich hatte ich schon jahrelang über das
Verschwindenlassen von Menschen geschrieben. Ich wusste, wie man mit den
Institutionen umgeht, hatte Massengräber gesehen und war genau für diese
Arbeit ausgebildet. Also fuhr ich mehrmals dorthin. Die ersten Wochen waren
fürchterlich. Ich fühlte mich, als befände sich meine Seele in einem
Massengrab, während ich als Zombie in Mexiko-Stadt unterwegs war.
Konnten Sie mit Ihrer journalistischen Arbeit die Ermittlungen
beeinflussen?
Das ist immer schwierig. Ich habe darüber geschrieben, dass die offizielle
Version des Verbleibs der 43 Studenten nicht der Wahrheit entsprechen
konnte. Dass die Männer nicht auf der Müllhalde verbrannt worden sein
konnten, wie der Generalstaatsanwalt behauptet hatte. Das bestätigten mir
auch Müllmänner, die dort arbeiteten. Als ich deren Aussagen
veröffentlichte, wurden sie von den Ermittlern vorgeladen. Man erklärte
ihnen, sie sollten sich genau überlegen, was sie sagen. Wenn sie sich
falsch erinnerten, kämen sie ins Gefängnis, zu den Kriminellen der
Kartelle. Also haben die Müllmänner ihre Aussagen geändert. Es gibt viele
solcher Beispiele. Wenn wir kritische Informationen veröffentlichen, heißt
es, wir Journalisten seien Aktivisten.
Immer wieder werden Medienschaffende angegriffen, Reporter ohne Grenzen
spricht von mindestens 80 Kolleginnen und Kollegen, die seit 2000 getötet
wurden. Was steckt dahinter?
Meistens handelt es sich um Journalisten, die sich um
Polizei-Berichterstattung kümmern, also um die organisierte Kriminalität.
So zum Beispiel ein Kollege, der sich im Bundesstaat Veracruz mit dem
Verschwindenlassen beschäftigte. In der Erdölregion ist vor allem das
Kartell „Los Zetas“ für Entführungen und Erpressungen verantwortlich. Als
Jimenez recherchierte, verschwand er selbst. Sein Körper wurde später tot
aufgefunden. Ebenfalls in Veracruz verschwand letztes Jahr ein Journalist,
dessen Fehler es war, über einen Taxifahrer zu schreiben, der ermordet
wurde. Er wusste nicht, dass der Mord eine Botschaft zwischen zwei
Kartellen war.
Eine unkalkulierbare Situation …
Ja, man kann schlicht nicht das Richtige tun. Ein Reporter berichtete mir
von einem Anruf, den er von Killern bekam. Sie forderten ihn auf, einen
Toten zu fotografieren, damit dieser am nächsten Tag in der Zeitung
erscheint. Dann meldet sich das gegnerische Kartell und stellt klar: Das
war unser Mann. Wenn du ein Bild von ihm veröffentlichst, bekommst du
Probleme. Als der Kollege am Tatort war, ließen ihn die Soldaten nicht
durch und verbaten ihm, aus der Nähe zu fotografieren. Also machte er aus
großer Entfernung ein schlechtes Bild, um alle drei zufriedenzustellen.
Ist es in erster Linie das organisierte Verbrechen, das Medienschaffende
unter Druck setzt?
Alle Welt meint, dass die Täter vor allem Kriminelle seien. Ganz sicher
gibt es eine hohe Dunkelziffer, weil viele aus Angst keine Anzeige
erstatten. Aber Recherchen der Organisation „Articulo 19“, die sich für
Pressefreiheit einsetzt, bestätigen, dass etwa zwei Drittel der Angriffe
von Politikern und Sicherheitskräften ausgehen. Oft sind die Gouverneure
der Bundesstaaten involviert. Natürlich lässt sich das nicht so leicht
trennen. Man wird von einem Bürgermeister bedroht, aber dahinter steckt die
organisierte Kriminalität. Wie auch beim Angriff auf die Studenten in
Iguala. Es geht gegen investigativen Journalismus, der korrupte Strukturen
aufdeckt.
Im August wurden in Mexiko-Stadt der Fotograf Rubén Espinosa, eine
Menschenrechtsaktivistin sowie drei Begleiterinnen umgebracht. Hier ging es
wohl nicht um die organisierte Kriminalität.
Nein, Rubén beschäftigte sich vor allem mit sozialen Bewegungen. Aber nicht
nur deshalb waren diese Morde für uns alle eine schreckliche und
entmutigende Botschaft. Rubén kam nach Mexiko-Stadt, weil er in Veracruz
verfolgt und bedroht wurde. Die Hauptstadt galt bislang als sicherer
Zufluchtsort, nun ist klar: Auch hier können wir uns der Verfolgung nicht
entziehen. Viele Journalistinnen und Journalisten, die wie ich seit Jahren
öffentlich gegen die Gewalt protestieren, beschlossen, erst einmal die Füße
still zu halten und zu versuchen, anders damit umzugehen.
Was heißt das?
Wir brauchen Solidarität. Es war sehr wichtig, dass sich auf
internationaler Ebene Schriftsteller, Medienschaffende, Künstler und
Filmemacher einmischten. Das führte dazu, dass sich der Präsident Enrique
Peña Nieto erstmals öffentlich zu den Angriffen gegen Journalisten
äußerte. Vor allem aber müssen wir dafür sorgen, dass die Straflosigkeit
beendet wird. Wenn niemand dafür bestraft wird, dass er einen Journalisten
bedroht, foltert oder ermordet, ist das ist eine Einladung, das weiterhin
zu tun.
15 Dec 2015
## AUTOREN
Wolf-Dieter Vogel
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