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# taz.de -- Kolumne Afrobeat: Tücken der Wahrheitsfindung
> Das UN-Ruanda-Völkermordtribunal schließt nach über 20 Jahren. Eine
> vollständige Aufarbeitung des Genozids an den Tutsi steht jedoch noch
> aus.
Bild: 61 Angeklagte wurden vom Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda (IC…
Am Montag, dem 14. Dezember, geht unter dem Kilimandscharo in Ostafrika ein
Stück Weltgeschichte zu Ende. Der Internationale Strafgerichtshof für
Ruanda (ICTR), der seit zwanzig Jahren die Cheforganisatoren des
Völkermords in Ruanda 1994 aburteilt, tritt zum letzten Mal zusammen.
Im vierten Stock des „Arusha International Conference Centre“ in der
gleichnamigen tansanischen Stadt wird das Berufungsurteil im sogenannten
Butare-Prozess fallen, dem letzten Prozess, der noch hier anhängig ist.
Das Arusha-Tribunal schließt zum Jahresende seine Türen; die verbleibenden
Fälle sind bereits an Ruandas Justiz übergeben worden. Die einzige
internationale Instanz zur Aufarbeitung des ruandischen Genozids stellt
ihre Arbeit ein.
Der Horror von Ruanda 1994, als Sicherheitskräfte und Milizen auf Befehl
der staatlichen Autoritäten die Tutsi des Landes jagten und ausrotteten,
ist inzwischen international weitgehend vergessen. Aber weder ist der
Völkermord aus dem Gedächtnis der Ruander verschwunden, noch ist die
juristische Aufarbeitung beendet.
## Zwei Jahre bis Prozessbeginn
Der UN-Sicherheitsrat gründete das „Internationale Gericht für Ruanda“ am
1. November 1994 in seiner Resolution 955 „zu dem ausschließlichen Zweck
der Verfolgung der Personen, die für Völkermord und andere schwere Verstöße
gegen das humanitäre Völkerrecht im Hoheitsgebiet Ruandas zwischen dem 1.
Januar 1994 und dem 31. Dezember 1994 verantwortlich sind“. Laut Statut hat
das Tribunal „Vorrang vor den einzelstaatlichen Gerichten aller Staaten“ –
auch Ruanda.
Weniger als ein halbes Jahr, nachdem der UN-Sicherheitsrat nichts getan
hatte, um den Völkermord in Ruanda zu stoppen, war dies eine
außergewöhnliche Anmaßung. Unter anderem aus diesem Grund war ausgerechnet
Ruanda damals gegen dieses Tribunal, als einziges Land auf der Welt.
Es dauerte über zwei Jahre, bis überhaupt der erste Prozess in Arusha
begann. Ruanda selbst stellte im gleichen Zeitraum mehrere tausend Menschen
vor Gericht und gründete dann landesweit Dorfgerichte, um der Wucht des
Geschehens Herr zu werden. In Ruanda gab es fast eine Million Tote und fast
ebenso viele mutmaßliche Täter. Diese historischen Tatsachen sind wichtig
zur Einordnung der positiven Schlussbilanz, die der amtierende und letzte
ICTR-Präsident, der dänische Richter Vagn Joensen, vor dem
UN-Sicherheitsrat am 9. Dezember vorgelegt hat.
5.800 Prozesstage. Über 3.000 Zeugen. 93 Anklagen. 55 erstinstanzliche
Urteile und 45 Berufungsurteile. Nach eigenen Angaben hat das Tribunal in
seinem 21-jährigen Bestehen 61 Menschen verurteilt – manche Urteile
betrafen mehrere Angeklagte gleichzeitig – und 14 freigesprochen.
Das ist nicht nur gemessen am Gesamtgeschehen ein Tropfen auf den heißen
Stein. Es macht auch den universellen Anspruch der Urteile fraglich, auf
den sich Anhänger wie Gegner des Tribunals gerne berufen.
## Maßstäbe gesetzt
Das ICTR selbst betont, es habe die weltweit erste Verurteilung wegen
Völkermordes durch ein internationales Gericht ausgesprochen und seine
Rechtsprechung setze globale Maßstäbe. So schließt der Völkermordvorwurf
mittlerweile sexuelle Verbrechen mit ein. Getestet wurden die schwierigen
Konzepte der „Vorgesetztenverantwortung“, also die persönliche
Verantwortung von Befehlshabern für die von ihnen angeordneten Handlungen,
und des „gemeinschaftlichen kriminellen Unternehmens“ (Joint Criminal
Enterprise), also die kollektive Verantwortung einer Gruppe, für die von
ihnen ausgeheckten Straftaten.
Diejenigen, die eher auf Seiten der Völkermordtäter stehen, verweisen
hingegen auf Probleme bei der Prozessführung und bei Ermittlungen in
Ruanda. Während sie jeden Schuldspruch als Siegerjustiz abtun, ziehen sie
große Genugtuung daraus, dass im Berufungsurteil gegen hochrangige
ruandische Exgeneräle ein „gemeinschaftliches kriminelles Unternehmen“
verworfen und damit eine Planung des Völkermordes nicht festgestellt wurde.
Aber wie alle Gerichte hat auch das Arusha-Tribunal keine allgemeine
Wahrheitsfindung betrieben, sondern Prozesse gegen Individuen geführt. Aus
dem Freispruch einer Gruppe von Angeklagten vom Vorwurf der Planung eines
Völkermordes kann nicht geschlossen werden, es habe keine solche Planung
gegeben. Vielmehr gehört es zum Wesen des Völkermordes, dass er konzipiert
und geplant wird.
## Gift für die Zukunft
In Kreisen der Hutu-Diaspora und ihrer internationalen Unterstützer wird
dies geleugnet – und damit der Völkermord an sich. So hinterlässt das ICTR
tiefe Gräben. Die Tore in Arusha sind geschlossen, aber die
unterschiedlichen Darstellungen des Tatgeschehens, die Anklage und
Verteidigung vor Gericht in ihren jeweiligen Rollen entwickeln mussten,
bleiben als konkurrierende historische Wahrheiten im Raum stehen. Das ist
Gift für die Zukunft.
Die einzige zulässige Verallgemeinerung aus den Urteilen in Arusha ist die
vom Tribunal selbst getroffene: Die Tatsache des Völkermordes an sich sei
nunmehr „allgemein bekannt“ und müsse nicht in jedem Prozess neu
nachgewiesen werden. Was im Einzelnen ablief, wurde aber jedes Mal neu
verhandelt, mit immer gleichen Argumenten, die sich dadurch verfestigten.
Da nur ein kleiner Teil der Organisatoren der Massaker in Arusha vor
Gericht kam, wurde auch nur ein Bruchteil des Völkermordes überhaupt unter
die Lupe genommen. Was in den allermeisten Teilen Ruandas geschah und was
die allermeisten damaligen Verantwortlichen und Einheiten der Streitkräfte
und Sicherheitsorgane taten, kam mangels Angeklagter nie zur Sprache.
Einige der wichtigsten Gesuchten sind bis heute flüchtig.
Je mehr Zeit vergeht, desto unwahrscheinlicher, dass diese Lücken noch
geschlossen werden können. Mit der Resolution 955 von 1994 machte die UNO
einen mutigen Schritt. Aber eine vollständige Aufarbeitung des Geschehens
in Ruanda fehlt bis heute. Und das ist Nährboden für Legenden und Lügen.
14 Dec 2015
## AUTOREN
Dominic Johnson
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