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# taz.de -- Syriza-Regierung in Griechenland: Das verflixte erste Jahr
> Der Wahlsieg von Alexis Tsipras sollte ein Neubeginn sein. Was hat sich
> verändert? Wir haben vier Griechen begleitet.
Bild: Kein Bock auf Sparmaßnahmen: Protest in Athen, November 2015.
Es ist schon kurz vor Mitternacht, als Alexis Tsipras in das rötliche Licht
der Bühne tritt. Auf dem großen Platz vor der Athener Universität drängen
sich Tausende Menschen. Der anschwellende Jubel trägt die Nachricht bis in
die letzte Reihe: Jetzt spricht Tsipras.
„Heute haben die Griechen Geschichte geschrieben. Hoffnung hat Geschichte
geschrieben“, sagt er.
So begann das Griechenlandjahr 2015 am 25. Januar. Synaspismos
Rizospastikis Aristeras, – übersetzt: Koalition der radikalen Linken, kurz
Syriza – gewinnt die Parlamentswahlen mit 36,5 Prozent der Stimmen. Am
nächsten Tag legt der ehemalige Bauunternehmer Alexis Tsipras seinen
Amtseid als Ministerpräsident ab. „Der Geisterfahrer. Europas Albtraum“,
titelt der Spiegel kurz darauf. Es beginnt ein Jahr mit 17-stündigen
Verhandlungen über Hilfspakete, mit Tagen, an denen in Athen kein Geld aus
den Automaten kommt. Mit einer Volksabstimmung, einer Neuwahl.
Es war das Jahr, in dem Europa auf Griechenland schaute. Mit Besorgnis, mit
Neugierde. Welchen Unterschied macht es, wer an der Macht ist? Was kann
eine Regierung im Alltag verändern?
Wir haben vier Menschen in Athen durch dieses Jahr begleitet. Die Putzfrau
Frosso Arvanitaki, den Arzt Stefanos Pappas, den Möbelverkäufer Thanassis
Anagnostopoulos und die Abgeordnete Elena Psarrea.
Im Herbst wird einer von ihnen, der im Januar noch für Syriza um Stimmen
kämpfte, seinen Wahlzettel mit einem Strich ungültig machen. Eine andere
wird gegen die Partei auf die Straße gehen, für die sie zu Beginn des
Jahres ins Parlament einzog. Eine Dritte wiederum bekommt auf Anweisung des
Regierungschefs ihren Job zurück. Und einer, für den im Januar eine
Katastrophe begann, wird froh sein, dass gegen Ende des Jahres langsam Ruhe
einkehrt.
## Winter
Die Putzfrau. Obwohl sie seit über einem Jahr keine Stelle mehr hat, kommt
Frosso Arvanitaki fast jeden Tag an ihren alten Arbeitsplatz – das
Finanzministerium, einen Betonklotz im Zentrum von Athen. Früher trat sie
durch die Glastür. Heute steht sie vor dem Eingang an einem Tisch mit
Flyern und Ansteckern. Im September 2013 wurde ihr und ihren Kolleginnen
gekündigt. Eine günstigere private Firma sollte ihre Arbeit machen. Ein
paar Tage später taten sich einige der Frauen zusammen. Plakate mit roten,
zum Victoryzeichen geformten Putzhandschuhen kleben nun an den
Ministeriumsmauern, sie wurden zum Symbol des Widerstands gegen die
Sparpolitik.
Frosso Arvanitaki hat den Reißverschluss ihrer Winterjacke bis nach oben
zugezogen. Sie ist 53 Jahre alt, ihre Augen hat sie mit schwarzem
Kajalstift umrandet, in ihrem Nasenflügel glitzert ein winziges Piercing.
„Tsipras wird uns helfen, unsere Jobs zurückzubekommen“, sagt sie. „Das …
er uns persönlich versprochen.“ Alexis Tsipras hatte die kämpfenden
Putzfrauen vor der Wahl besucht, jeder einzelnen die Hand geschüttelt. „Ein
guter Junge!“, sagt Arvanitaki.
Der Wahlabend bei ihr zu Hause wurde zu einer Party, Gläser klirrten: Stin
ijiá mas – prost! Auf Syriza! Endlich Hoffnung.
Arvanitaki bekommt 300 Euro Arbeitslosenhilfe. Ihr Mann, der auf dem
Busbahnhof gearbeitet hat, 1.000 Euro Rente. Diese wurde gerade um 300 Euro
gekürzt. Ein Weißbrot kostet 80 Cent, ein Liter Milch 1,40 Euro, ein Kaffee
in der Stadt 2 Euro. Vergangene Woche hat Arvanitaki sich bei einer
privaten Reinigungsfirma vorgestellt. Die Empfangsdame musterte sie und
sagte, nur schlanke Frauen unter 35 Jahren hätten hier eine Chance.
Der Möbelverkäufer. „Accept failure as part of the process“, steht auf
Thanassis Anagnostopoulos’ T-Shirt. Scheitern gehört dazu. Er ist 37, ein
kräftiger Typ mit Vollbart. In seinem Athener Möbelladen steht er zwischen
Stehlampen, Korbstühlen und Polsterliegen.
„Ich bin ganz zuversichtlich“, sagt er. Anagnostopoulos ist
Syriza-Mitglied. Mit anderen aus der Partei organisiert er Diskussionsforen
und Konzerte.
Nach der Schule arbeitete Anagnostopoulos acht Jahre lang als Kellner, dann
übernahm er das Möbelgeschäft seines Vaters. Drei Jahrzehnte hatte der
Laden Gewinne gebracht. Dann kam die Wirtschaftskrise. Zwischen 2010 und
2012 halbierten sich die Einnahmen. Bis 2014 gingen sie noch einmal um 75
Prozent zurück. Möbel könnten die Leute entbehren, sagt Anagnostopoulos.
Thanassis Anagnostopoulos ist seit fast vier Jahren nicht mehr
krankenversichert. Seine Frau arbeitet als Bankangestellte, so ist
zumindest die gemeinsame dreijährige Tochter mitversichert. Das Geld reicht
für das Nötigste: Strom, Benzin, Supermarkt.
„Ich glaube nicht, dass diese Regierung alles halten kann, was sie
verspricht. Aber wenigstens etwas“, sagt er. Einen Gesetzentwurf konnte
Syriza schon durchsetzen: Nicht gezahlte Steuern können in 100 Raten
nachgezahlt werden, straffrei. Auch Anagnostopoulos macht davon Gebrauch.
„Plötzlich versuchen die Leute sich gegenüber dem Staat – der sonst immer
der Feind war – korrekt zu verhalten, schreiben Rechnungen“, sagt er. „Sie
versuchen, die Regierung zu unterstützen.“ Es sei ein Vertrauensvorschuss.
## Frühling
Die Abgeordnete. Elena Psarrea schlängelt sich auf dem Bürgersteig zwischen
Passanten und falsch geparkten Autos hindurch. Eine zierliche Frau, 32
Jahre alt, schmales Gesicht, Pagenschnitt. Sie ist auf dem Weg zu einem
Treffen , um ein Haus für Frauenorganisationen zu gründen.
Elena Psarrea sitzt seit Januar im Parlament, sie ist Feministin, und
gehört zum linken Flügel von Syriza. Sie kommt aus einer
Antikriegsinitiative, einer der vielen Bewegungen, aus denen Syriza 2012
hervorging. Früher gab Psarrea Unterricht für Migranten, jetzt hat sie ein
Büro in der Nähe des Parlaments. Zwei Assistenten werden bezahlt, ein
Freund arbeitet ehrenamtlich.
Ende Januar hatte Finanzminister Gianis Varoufakis der Troika die
Zusammenarbeit aufgekündigt. Das Hilfsprogramm für Griechenland läuft aus.
Die griechische Regierung verhandelt jetzt. Heute hat Tsipras fünf Stunden
mit Psarrea und den anderen Abgeordneten über die Verhandlungen gesprochen.
Um die Gespräche mit den Gläubigern nicht zu gefährden, bleiben die
Vorschläge weitgehend geheim. Besprochen wird nur die Strategie.
Elena Psarrea geht vorbei an Wänden voller Graffiti und Plakate für
Konzerte und Politversammlungen. Am Eingang des Theaters, in dem die
Veranstaltung beginnt, wird sie von vielen begrüßt. Die Feministinnen haben
jetzt eine Abgeordnete. Geschlechtergerechtigkeit hat es als Thema
allerdings schwer. Von 41 Ministern und Vizeministern sind nur sechs
Frauen.
Der Möbelverkäufer. Thanassis Anagnostopoulos lehnt an der Eingangstür
seines Geschäfts und zieht kräftig an seiner selbst gedrehten Zigarette. Es
laufen wieder mehr Geschäfte schwarz, ist ihm aufgefallen. Von wegen
Steuern zahlen, die Regierung unterstützen. Die Zeiten sind eben weiter
hart. Es komme jetzt auf die Verhandlungen an.
Zugeständnisse an die Gläubiger könnte er nicht akzeptieren sagt
Anagnostopoulos. „Dann trete ich aus der Partei aus.“ Er schnippt den
Zigarettenstummel auf die Straße.
Der Arzt. Stefanos Pappas kommt im OP-Kittel in sein Büro im Krankenhaus
gerannt. „Entschuldigung! Ich musste noch einen Kaiserschnitt machen“, sagt
er und eilt weiter. „Kaffee? Tee? Wasser? Ja? Nein?“ Schon läuft er zur
Cafeteria. „Die Lage wird sich verschlimmern“, sagt er. Die Situation in
der Klinik? Die Politik? Bevor er antworten kann, kommt ein Mann und drückt
seine Hand. „Wie geht es dem Baby?“, fragt Pappas.
Pappas ist 57 Jahre alt, er trägt eine Brille, die er manchmal auf seine
Glatze schiebt. Er ist Frauenarzt. Nach dem Studium war er in England und
Italien. Er kam zurück. „Ich habe Grundstücke hier, ich habe mein Leben,
ein gutes Leben“, sagt er.
Pappas hat mehrere Jobs. In einem staatlichen Gesundheitszentrum kümmert er
sich um HIV-positive Schwangere. An anderen Tagen betreut er Geburten in
öffentlichen Krankenhäusern. Jeden Abend empfängt er auch Patienten in
seiner Privatpraxis. Das sind 18 Stunden Arbeit am Tag, sagt er.
Die politische Entwicklung verfolgt Pappas mit Sorge. Bis zum Frühling
mussten die Patienten in Krankenhäusern 5 Euro Praxisgebühr zahlen. Nun
wurde sie gestrichen. Weil Geld fehle, werde jetzt alles in letzter Minute
bestellt, selbst Schutzhandschuhe oder Fäden zum Nähen. „Wer gute Ärzte
will, muss dafür zahlen“, sagt er. Ein Vollzeitjob in einem Krankenhaus
bringe ihm etwa 1.600 Euro pro Monat. In England könne er 7.000 Euro
verdienen.
Die Regierung müsse sich entscheiden: Kommunismus oder Kapitalismus. „Die
griechische Gesellschaft ist kapitalistisch. Sie hat dem Staat nie
getraut.“ Er plädiert für den freien Markt. Für Privatisierung einiger
Krankenhäuser. Hier könnten Patienten für bessere Bedingungen mehr zahlen.
Ganz offiziell. Wenn jemand eine bessere Behandlung will, läuft das schon
heute gegen Bezahlung: mit Schmiergeld, fakelaki. Bei einer Geburt etwa
können es bis zu 1.500 Euro sein.
Die Abgeordnete. „Es ist die Zeit der Wahrheit für Syriza“, steht auf dem
Plakat. Der Konferenzraum im Haus des Athener Journalistenverbandes ist
überfüllt, Leute drücken sich an die holzgetäfelten Wände. Elena Psarrea
steht im Gedränge.
Am Morgen hat sie die Reformvorschlägen des EU-Kommissionspräsidenten in
der Zeitung gelesen. „Ich glaube, dass wir uns einem Abkommen nähern”, sagt
sie. Schon seit einiger Zeit gibt es Kritik an Tsipras: Er treffe mehr und
mehr Entscheidungen mit einem kleinen Kreis von Beratern.
Auf der Bühne sitzen vier Politiker des Zentralkomitees von Syriza. „Wir
müssen aufhören, die Schulden zurückzuzahlen“, sagt einer der Redner.
Applaus. „Wir müssen über einen Plan B nachdenken, falls wir aus der
Eurozone austreten”, fordert eine andere. Noch mehr Applaus. Auch Elena
Psarrea klatscht.
## Sommer
Die Putzfrau. Seit Mai tritt Frosso Arvanitaki wieder durch die Glastür des
Finanzministeriums. 600 Euro bekommt sie nun für eine volle Stelle. Weniger
als vor der Entlassung.
Zur Wiedereinstellung gab es eine kleine Party. Arvanitaki war nicht nach
feiern. Sie hat zwei erwachsene Kinder, die beide seit längerer Zeit
arbeitslos sind.
Ihr Sohn schlägt sich seit Monaten ohne Vertrag als Sicherheitsmann durch.
Er bekommt im Monat 320 Euro. Arvanitakis Tochter wohnt mit einer Freundin
in einer WG, ihre Mitbewohnerin zahle die Miete allein, wenn es nicht
anders gehe, und spendiere auch mal den Einkauf. „Die Kinder der Krise
haben von uns gelernt, das Solidarität heute das Wichtigste ist“, sagt
Arvanitaki.
Arvanitakis Mann ist in der Zwischenzeit an Krebs erkrankt. Die
Versicherung verschreibe ihm zwar die teuren Untersuchungen wie
Kernspintomografie, aber die Wartelisten in den staatlichen Krankenhäusern
sind lang. „Da wird man erst nach dem Tod untersucht“, sagt sie und lacht
bitter.
Um sich eine Privatklinik leisten zu können, haben sie vor Monaten
aufgehört das Darlehen für ihre Wohnung zurückzuzahlen. Bisher hat sich die
Bank nicht gemeldet.
Der Arzt. Es ist halb zehn an einem Juniabend, und im Wartezimmer von
Stefanos Pappas’ Praxis sitzen noch sieben Leute. Pappas kommt herein, er
bittet den nächsten Patienten zu sich. An den Wänden hängen orthodoxe
Ikonen neben seinen Diplomurkunden.
„Wenn ich es schaffe, um zehn fertig zu sein, dann ist es ein guter Tag”,
sagt er. Es wird elf werden heute. Zeit zu essen.
Bei einem Italiener stellt ein Kellner am Ende der Terrasse einen Tisch für
ihn auf. Pappas winkt einer Frau zu. Dora Bakogianni war Außenministerin
und ist jetzt Abgeordnete der Konservativen. Man kennt sich: dieselben
Restaurants, die Kinder auf denselben Schulen.
Als er gerade mit Bakogiannis Mann spricht, hüpft ihm ein Mädchen in die
Arme: „Papa!“ Seine zehnjährige Tochter fährt morgen nach England: zwei
Wochen Sprachunterricht. „Es wird noch acht bis zehn Jahre dauern, ehe wir
diese Krise hinter uns haben“, sagt Pappas. Er will die besten Chancen für
seine Tochter.
Seit einigen Tagen sind die Spannungen geradezu greifbar. Am Tag zuvor hat
der Internationale Währungsfonds vorgeschlagen, die Mehrwertsteuer auf bis
zu 23 Prozent zu erhöhen. In der Nacht haben sich die Verhandlungsführer
wieder ohne Ergebnis getrennt. Heute treffen sie sich wieder, seit Wochen
geht es so. „Schlimm“, sagt Stefanos Pappas und stochert mit der Gabel in
seinem Lachstartar.
Die Abgeordnete. Es ist der 16. Juli, gestern hat das Parlament über die
Einigung mit den Gläubigern abgestimmt – das dritte Memorandum ist auf dem
Weg. Von den 149 Syriza-Abgeordneten haben 32 dagegen gestimmt, unter ihnen
Elena Psarrea. Sie sitzt in einer Bar und kann zum ersten Mal ihre Empörung
nicht verstecken. „Es war schrecklich. Wir hatten keine Zeit, über den
Inhalt zu sprechen.“
Ende Juni hatte Tsipras nach einer Kabinettssitzung eine Fernsehansprache
gehalten, es war mitten in der Nacht. Links von ihm die Griechenlandflagge,
rechts die der EU. Er kündigte ein Referendum über das neue Sparprogramm an
und bat darum, die Kredite wenige Tage zu verlängern, damit das griechische
Volk ohne Druck entscheiden könne. Schon in der Nacht bildeten sich
Schlangen vor den Geldautomaten. Am Tag darauf lehnten die
Eurofinanzminister eine Verlängerung des Rettungsprogramms ab.
Regierungschef Tsipras warb für eine Ablehnung der Sparpläne. Fast 30.000
demonstrierten in Athens Straßen für das Nein, 20.000 Ja-Anhänger kamen zum
alten Olympiastadion zusammen. 61 Prozent der Griechen stimmten dann gegen
das Sparprogramm.
Nur eine Woche später kam Alexis Tsipras aus einer 17-stündigen Sitzung mit
seinen europäischen Amtskollegen und hielt dennoch ein Abkommen in der
Hand. Das hat das Parlament nun gebilligt.
Psarrea ist eine der beiden Abgeordneten, die einen Aufstand innerhalb der
Syriza begonnen haben. „Es gibt noch andere Möglichkeiten“, sagt sie. Sie
ist dafür, die Banken zu verstaatlichen.
Sie weiß nicht, wie es weitergehen wird mit der Partei. Heute hat sie sich
wieder den ganzen Tag mit Leuten aus dem linken Flügel getroffen. Um noch
irgendwas zu ändern.
## Herbst
Der Möbelverkäufer. Als Thanassis Anagnostopoulos in der Nacht nach dem
Referendum auf dem Syntagmaplatz mit vielen anderen das Nein feierte,
spürte er noch einmal Zuversicht. Menschen hielten sich in den Armen,
tanzten.
Jetzt ist jede Euphorie verschwunden. „Die Regierung ist sehr weit von dem
abgekommen, was sie nach der Regierungsübername verkündet hat“, sagt
Anagnostopoulos.
Er ist aus der Partei ausgetreten. Bei den Neuwahlen im September, die
Tsipras durch seinen Rücktritt erzwungen hat, hat er ungültig gewählt. „Ich
habe einen Strich über den Wahlzettel gezogen, denn ich fühle mich durch
keine der Parteien vertreten“, sagt er. Vor Kurzem hat er sich zum
Gitarrenunterricht angemeldet. „Ich gebe lieber 10 Euro für zwei
Gitarrenstunden aus, als für die Banken zu sparen.“
Die Putzfrau. Frosso Arvanitaki steht mit einem Kaffeebecher vor dem
Finanzministerium, macht kurz Pause. Während der Proteste hatte ein Café um
die Ecke einen Rabatt für die kämpfenden Putzfrauen eingeführt: Kaffee für
1 Euro. Der Preis gilt immer noch. Ihre Liebe zu Syriza ist verflogen.
Erst wollte Arvanitaki gar nicht zur Wahl gehen. Letztendlich habe sie doch
noch einmal für Syriza gestimmt, „das weniger Schlechte vom Schlechten“.
Sie hofft, dass Syriza zumindest einige Versprechen erfüllen kann, wenn sie
mehr Zeit bekommt.
Arvanitaki nimmt schnell den letzten Schluck und wirft den Becher in den
Mülleimer. Dann verschwindet sie hinter der Glastür.
Der Arzt. Stefanos Pappas kommt rennend in seinem Büro an. Es ist elf Uhr
morgens an einem Freitag im Oktober, die blinkende Anzeigetafel im
Empfangsraum des Krankenhauses zeigt, wie viele Patienten heute schon hier
waren: 200.
Pappas ist froh, dass die Vernunft langsam nach Athen zurückkehrt. Endlich
eine Einigung mit den Gläubigern. Für ihn sind der Tsipras heute und der
aus dem Januar zwei verschiedene Politiker. Papandréou, der ehemalige
Premierminister der sozialdemokratischen Partei Pasok, habe auch einst
links angefangen und sei immer mehr ins Zentrum gerückt. „Das Gleiche
passiert jetzt.“
Stefanos Pappas freut sich darüber, dass im Parlament wieder Ruhe ist. Die
Opposition ist schwach, Entscheidungen werden schnell durchgepeitscht. Aber
Pappas bleibt ungeduldig. „Tsipras muss sich beeilen.“
Sein Telefon klingelt wieder. „Ich komme ja, ich komme.“ Kaiserschnitt.
Die Abgeordnete. Seit der Neuwahl im September sitzt Elena Psarrea nicht
mehr im Parlament. Sie ist jetzt arbeitslos, aber immer noch Politikerin.
An diesem Novembertag wird das erste Mal seit der Neuwahl wieder zum
Generalstreik aufgerufen, im Zentrum Athens sind Schulen und Museen
geschlossen. Züge stehen still. Krankenhäuser nehmen nur Notfälle auf.
Auf dem Banner neben Elena Psarrea steht: „Nein zu den Kürzungen“. Daneben
ist eine schwarz-weiße Faust. Es ist das Symbol der Laiki Enotita, der
Volkseinheit, Psarreas neuer Partei. Bei der Wahl scheiterten sie an der
Dreiprozenthürde.
Für sie war es der größte Fehler von Tsipras, einen Mittelweg zu suchen:
„Er versuchte, die Schulden zurückzuzahlen und gleichzeitig unser
Wahlprogramm umzusetzen. Aber ab irgendwann hat er aufgehört, unser
Programm zu respektieren.“ Ihre Stimme wird von den Rufen der Demonstranten
übertönt, 20.000 sind es inzwischen. „Nieder mit den Memoranden!“, rufen
sie.
Die Putzfrau. Der 2. Dezember ist ein warmer Tag, fast 20 Grad wird es
mittags in Athen. Frosso Arvanitaki geht heute nicht zur Arbeit ins
Finanzministerium. Die Gewerkschaften haben zum Generalstreik aufgerufen,
dem zweiten innerhalb von drei Wochen. Wenn Arvanitaki ihr Fehlen als
Streiktag angemeldet hätte, würde sie für die weggefallenen Arbeitsstunden
nicht bezahlt. Das kann sie sich nicht leisten. Frosso Arvanitaki ist heute
krank.
7 Dec 2015
## AUTOREN
Charlotte Stiévenard
Theodora Mavropoulos
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