| # taz.de -- Die Wahrheit: Die Ellenbogen der Frau von Ritter | |
| > Nachbarn können urplötzlich zu einer Landplage mutieren. Doch wer gewöhnt | |
| > sich nicht an alles? | |
| Jahrelang lebten Frau von Ritter und ich in friedlicher Koexistenz. Sie | |
| nervte mich nicht mit den Details des Treppenhausputzplans oder | |
| despektierlichen Erörterungen, die die gelegentliche Anwesenheit weiblicher | |
| Übernachtungsgäste bei mir mit den moralischen Verhältnissen nahe Sodom und | |
| Gomorrha in Verbindung brachten. Dafür verzichtete ich darauf, nachts laut | |
| Musik zu hören, wenn es sich vermeiden ließ. | |
| Einmal trug ich ihr sogar die Einkaufstasche in den zweiten Stock. Sie | |
| fürchtete sichtlich, dass ich mich mit ihren Lebensmitteln auf und davon | |
| machen könnte, bezwang aber den Impuls, die Polizei zu rufen, und ich | |
| stellte ihr die Tasche galant vor die Tür und wartete darauf, dass die | |
| Bundesfamilienministerin herbeigeeilt käme, um uns für unsere Verdienste um | |
| das respektvolle Miteinander der Generationen mit der goldenen | |
| Friedenspfeife auszuzeichnen. | |
| Ein Tag beim Arzt änderte alles. Über der Stadt lag ein grünes | |
| Gallertkissen, die Menschen waren verschleimt bis unter die Schädelnaht und | |
| Frau von Ritter und ich saßen mit zwanzig anderen Rotzgestalten im | |
| Wartezimmer von Doc Quendt. Nach drei Stunden rief er mich auf. Bevor ich | |
| mich aber erheben konnte, trippelte Frau von Ritter zu ihm hinüber. Quendt | |
| blickte mich an, ich blickte ihn an – und nickte: „Schon gut, nehmen Sie | |
| ruhig erst die Lady dran.“ | |
| Das war ein Fehler. Vielleicht hatte ich mit meiner großmütigen Geste einen | |
| unheiligen Mechanismus in Gang gesetzt, vielleicht auch hatte Frau von | |
| Ritter – obwohl sie weder das Missverständnis registriert noch den | |
| Blickwechsel zwischen dem Doc und mir mitbekommen zu haben schien – | |
| plötzlich Blut geleckt. Fest stand, dass sie auf einmal überall auftauchte, | |
| wo ich in einer Schlange stand. Beim Bäcker, Schlachter, Gemüsemann: Wann | |
| immer ich an der Reihe war, drängte sie sich im letzten Moment dazwischen. | |
| Einmal schubste sie mich sogar beiseite, als ich auf der Hauptpost ein | |
| Paket abholen wollte: Der Postmann erklärte ihr lange, dass der Zettel, den | |
| sie ihm vorgelegt hatte, kein Postbeleg, sondern ein Abholschein der | |
| Reinigung „Blitzefritz“ war, und als sie sich schließlich getrollt hatte, | |
| zog er vor meiner Nase ein Absperrgitter runter und knarrte: „Feierabend!“, | |
| sodass ich mich tags drauf noch einmal anstellen musste. | |
| Zum Showdown kam es schließlich am Friedensplatz. Ich hatte es eilig und | |
| wollte gerade bei Rot über die Kreuzung rennen, als mich ein bekannter | |
| spitzer Ellenbogen in der Seite traf. „He!“, rief ich – sah aber dann den | |
| heranbrausenden Dreißigtonner und riss Frau von Ritter im letzten Moment | |
| zurück. „Was erlauben Sie sich!“, krähte sie und drosch mir ihren | |
| Regenschirm auf den Kopf. Nachdem ihr indes mehrere Zeugen versichert | |
| hatten, dass ich ihr das Leben gerettet hatte, sagte sie nur kleinlaut: | |
| „Ups!“, und verkrümelte sich. | |
| Fortan verschwanden Frau von Ritter und ihre Ellenbogen wunderbarerweise in | |
| den Weiten ihrer Wohnung, sodass ich und meine Rippen sie beim Einkaufen | |
| fast schon ein wenig vermissten. | |
| 9 Nov 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Joachim Schulz | |
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