# taz.de -- Die Wahrheit: Graffiti, mon amour | |
> Die Liebe ist ein seltsames Spiel – und manchmal reicht es eigentlich | |
> schon, sie auf Wände zu sprühen ... | |
Die Botschaften tauchten über Nacht im ganzen Viertel auf. „Raymond, mon | |
amour!“, „Du bist mein Sternen’immel, Raymond!“, „Raymond, isch werde… | |
immer lieben!“ stand auf Häuserwänden, Mauern und Garagen. Viele wunderten | |
sich, dass der französische Akzent, den die geheimnisvolle Verfasserin | |
anscheinend besaß, sogar auf ihre Schriftsprache durchschlug, und jeder war | |
fasziniert von der Handschrift der Sprayerin, die so schön und elegant war, | |
dass immer wieder Passanten schnuppernd an die Inschriften herantraten, | |
weil sie dachten, dass Letztere nach einem betörenden Parfum riechen | |
müssten. | |
Raimund blühte auf. Bis dahin hatte er so offenkundig desolat gewirkt, dass | |
man in den Kneipen rund um den Goetheplatz bereits ausführlich über die | |
Ursachen seines hartnäckigen Trübsinns spekulierte: Manche waren überzeugt, | |
dass auch dieser notorische Sonnyboy und Berufsjugendliche endlich von der | |
Midlifecrisis eingeholt worden wäre, andere tippten auf ein | |
Lonely-Wolf-Syndrom oder das Regenwetter, das die Stadt Tag für Tag | |
einhüllte. | |
Kaum aber waren auf allen Wänden ringsum Liebeserklärungen mit | |
französischem Akzent zu lesen, war seine elegische Stimmung verflogen: | |
Draußen hielt das bleigraue Niederschmetterwetter an, doch Raimund | |
tirilierte, als ob die Maisonne strahlte und das Leben noch wie ein | |
verheißungsvolles Versprechen vor ihm läge. Und selbstverständlich meinte | |
er in jeder dritten Frau, der er begegnete und die betont gelangweilt an | |
ihm vorbeischaute, die unbekannte Schreiberin erkennen zu können. | |
Natürlich dauerte es nicht lange, bis sich Zweifler meldeten. Anne hielt es | |
für unmöglich, dass unser Raimund gemeint sein könne, da keine Frau auf | |
diesem Planeten für einen derartigen Stiesel und Nichtsnutz in | |
Farbspraydosen investieren würde. Theo wiederum glaubte an einen Reklamegag | |
und mutmaßte, dass ein französischer Käsehersteller demnächst einen | |
Camembert mit dem Namen „Raymond“ auf den Markt bringen werde. Und Rudi, | |
der Blödmann, vertrat die Theorie, dass Raimund selber der Urheber der | |
Graffiti war. | |
Ich wusste, es musste etwas geschehen, und so wählte ich noch einmal die | |
Nummer, die ich mir kürzlich von meinem alten Kumpel Bo hatte besorgen | |
lassen. „Ich hätte einen zweiten Auftrag für Sie“, sagte ich, nachdem die | |
Mailbox angesprungen war, und so kam es, dass zwei Tage später eine Frau | |
ins Café Gum hereinstürzte und Raimund um den Hals fiel: „Raymond“, | |
schluchzte sie, „wir ätten glücklisch werden können, aber das Schicksal | |
will es anders: Isch muss ge’en, bevor es begonnen at – für immer! Adieu, | |
mon amour, isch werde disch nie vergessen!“ | |
Dann eilte sie wieder hinaus, und während Rudi, dem Blödmann, die Kinnlade | |
hinuntersank, breitete sich in Raimunds Gesicht ein glückliches Lächeln aus | |
– ein Lächeln, das blieb, obwohl es draußen weiterregnete, er immer noch | |
fünfzig war und weiterhin als einsamer Wolf durch die Stadt stromern würde. | |
22 Dec 2015 | |
## AUTOREN | |
Joachim Schulz | |
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