# taz.de -- Die Wahrheit: Romeo und Julia | |
> Manche Paare sind vom Untergang bedroht, andere verhalten sich einfach | |
> nur clever. | |
Der dicke Mann rannte keuchend an mir vorbei, sein Gesicht war wutverzerrt | |
und sein Kopf schwebte wie ein blutroter, schwitzender Vollmond über dem | |
massigen Körper. Er erinnerte mich an Butenjohann, den Schrecken meiner | |
Kindheit, der in unserem Viertel einen Garten voller Zwetschgenbäume und | |
Wespen besaß. | |
Der Garten war mit einem unüberwindlichen Stacheldrahtzaun umfriedet – | |
trotzdem aber beschuldigte mich Butenjohann regelmäßig, seine Zwetschgen zu | |
klauen. „Ich krieg dich, du Mistknirps, und dann werde ich dich mit | |
Zwetschgenmus bestreichen und den Wespen zum Fraß vorwerfen!“, schnaufte | |
er, wenn er mich,zum Glück stets vergebens, verfolgte. | |
Als ich das Café Gum betrat, war Raimund noch nicht da. Sekunden später | |
polterte er herein. Er hatte die Arme schützend um zwei junge Menschen | |
gelegt, die aus der Wäsche kuckten wie zwei Hamster auf der Flucht, und | |
rief Petris, dem Gum-Wirt, zu: „Pete, du musst sie verstecken!“ – | |
„Verstecken? Wieso?“, japste Pete, und Raimund sagte: „Weil du die | |
einmalige Chance hast, Romeo und Julia zu retten. Sie werden verfolgt! Von | |
seinem Vater, von ihrem Vater, was weiß ich: Aber du kannst sie retten – | |
die Liebe retten, dieses ganze verkorkste 21. Jahrhundert retten!“ | |
Mich faszinierte die pathologische Romantik, die Raimund sich gelegentlich | |
wie einen Schnupfen zuzog, und Pete war ein leichtes Opfer für das | |
aufgeregte Palaver. Er schob, als jemand von außen die Cafétür aufriss, | |
erst Raimund und die Hamster und dann auch mich in überspringendem Eifer | |
nach hinten ins Lager. | |
„Wie heißen die beiden wirklich?“, fragte ich, nachdem wir die Tür | |
geschlossen hatten. „Keine Ahnung“, sagte Raimund, „sie haben noch kein | |
Wort gesprochen.“ – „Aha“, machte ich und drehte mich zu den beiden: �… | |
sind eure Namen, wer verfolgt euch?“ Keine Antwort. „Und woher“, wandte i… | |
mich wieder an Raimund, „weißt du, dass sie Romeo und Julia sind?“ – | |
„Weil“, sagte er, „ich ihren Verfolger gesehen habe und weiß, wie sie | |
aussehen, diese kalten, herzlosen Väter!“ | |
Draußen war alles still. „Anscheinend hat Pete den Typen schon abserviert“, | |
flüsterte ich und schlich hinaus. Raimund folgte mir. Der dicke Mann aber | |
saß an der Theke und lachte. Pete erklärte uns, dass er und Sven mal | |
zusammen Psychologie studiert hätten. „Sven hat sogar sein Diplom gemacht, | |
es aber auch nicht viel weitergebracht als ich“, sagte Pete: „Er hat einen | |
Handyladen und deine beiden Früchtchen haben ihn beklaut.“ – „Romeo und | |
Julia?“, schnaubte Raimund: „Niemals!“ | |
Doch als wir ins Lager zurückkehrten, waren die zwei mitsamt einiger teurer | |
Flaschen Whisky verschwunden. Während Pete es unbegreiflich fand, dass | |
Romeo und Julia es geschafft hatten, sich durch das winzige Lagerfenster zu | |
quetschen, hatte ich auf einmal eine jahrzehntelang verdrängte, jetzt aber | |
sehr klare Erinnerung daran, wie ich damals ein Loch in Butenjohanns | |
Stacheldrahtzaun geschnitten und eimerweise Zwetschgen fortgeschleppt | |
hatte. | |
5 Jan 2016 | |
## AUTOREN | |
Joachim Schulz | |
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