| # taz.de -- Die Wahrheit: The Mighty Gnome | |
| > Im Umgang mit übersinnlich begabten Kindern ist Vorsicht geboten. Das | |
| > gilt besonders, wenn sie im Schlepptau ihrer Mutter sind. | |
| Raimund starrte zur anderen Straßenseite hinüber. „Schau dir das an!“, | |
| hauchte er und deutete auf einen kleinen Jungen, der sich an der Hand | |
| seiner Mutter widerspenstig motzend den Bürgersteig entlangziehen ließ. Auf | |
| einmal hob das Kerlchen den Arm und zeigte auf einen prall gefüllten gelben | |
| Sack. „Peng!“, machte der Knirps und der Sack zerplatzte wie ein | |
| angestochener Luftballon. | |
| „Donnerschlag“, japste ich. Die Mutter blieb stehen. „Lass das“, herrsc… | |
| sie den Pöks an, doch der grinste nur, hob wieder den Arm und schnickte mit | |
| dem Finger in Richtung einer der Tauben, die über den Gehsteig glucksten. | |
| „Buff!“, machte er und die Taube kugelte, von einem unsichtbaren Schubs | |
| getroffen, ein paar Meter rückwärts, ehe sie davontorkelte. | |
| „Fantastisch!“, flüsterte Raimund: „Ich sage dir, die mageren Jahre sind | |
| vorbei – wir werden ein glorreiches Team sein: Du, ich und der Gnom!“ Und | |
| bevor ich ihn aufhalten konnte, sprang er über die Straße. | |
| Als ich ihm nachgeeilt war, hatte er die Frau bereits in ein Gespräch | |
| verwickelt. „Ihr Sohn kann erstaunliche Dinge“, sagte er. „Sie finden das | |
| erstaunlich?“, sagte die Frau, „Möchten Sie mal kucken, wie’s bei uns zu | |
| Hause aussieht?“ – „Na ja“, erwiderte Raimund und blickte auf den | |
| explodierten Müllsack, „wahrscheinlich ist es dort etwas unordentlicher als | |
| Sie es sich wünschten – aber überlegen Sie mal, wie viel Geld er im | |
| Fernsehen verdienen könnte! Mit mir als Manager würde …„ | |
| „Manager?“, unterbrach sie ihn, „Fernsehen? Ich will nicht, dass er ins | |
| Fernsehen kommt. Ich will, dass er in den Kindergarten geht und wacklige | |
| Türme aus Bauklötzen baut wie jeder andere Junge in seinem Alter, statt die | |
| Kindergärtnerinnen in Panik zu versetzen, sobald er den Arm hebt!“ | |
| „Okay, okay“, beschwichtigte Raimund sie, „dann eben nicht ins Fernsehen. | |
| Wie wäre es stattdessen mit einer Karriere als Außenpolitiker? Stellen Sie | |
| sich vor, ich reise mit ihm zu den berüchtigsten Diktatoren, und kaum hat | |
| er fünf Minuten vertraulich mit ihnen zusammengesessen, erklären sie ihren | |
| Rücktritt und den Bürgerkrieg für beendet. Er würde als jüngster | |
| Friedensnobelpreisträger aller Zeiten in die Geschichte eingehen – und | |
| dafür übrigens ein Preisgeld kassieren, das uns allen ein sorgloses …„ | |
| „Schluss jetzt!“, herrschte die Frau ihn an: „Mein Sohn ist weder für den | |
| Weltfrieden verantwortlich noch dafür, Ihnen die Taschen zu füllen! Ich | |
| will, dass kein Buswartehäuschen mehr explodiert, wenn er darauf zeigt, und | |
| deshalb gehen wir jetzt dort hinein!“ Wir standen vor einem Haus, in dem | |
| sich die Praxis eines auf Hypnose spezialisierten und für seine | |
| spektakulären Erfolge weithin bekannten Psychiaters befand. | |
| „Nein, nicht!“, rief Raimund, doch sie trat schon durch die Tür und nur der | |
| Knirps drehte sich auf der Schwelle noch einmal um. „Buff!“, machte er, und | |
| Raimund kugelte, von einer Taube neugierig betrachtet, rückwärts über den | |
| Gehsteig, was aber, wie ich fand, bei Weitem nicht so schmerzhaft war wie | |
| müllsackgleich zu explodieren. | |
| 17 Sep 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Joachim Schulz | |
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