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# taz.de -- Was aus der Netzneutralität wird: Internet jetzt mit Überholspur
> Die EU-Verordnung zur Netzneutralität ist da. Wer extra bezahlt, hat im
> Zweifel künftig Vorfahrt. Wo sind die Engpässe im Internet?
Bild: Noch ist der Weg frei. Aber besteht bald Staugefahr im Internet?
Diese Situation will tatsächlich niemand erleben: Ein selbst fahrendes Auto
bleibt plötzlich auf der Straße stehen, bremst am Stauende nicht
rechtzeitig oder spielt anderweitig verrückt. Und das nur, weil die Kinder
auf der Rückbank Onlinevideos geschaut haben und deshalb die
Internetverbindung für das Auto ruckelte. Braucht es dafür nicht einen
bevorzugten Transport der lebenswichtigen Steuerungsdaten für das Fahrzeug?
So sieht es jedenfalls EU-Digitalkommissar Günther Oettinger. Und das
Europäische Parlament [1][hat sich Ende Oktober] seiner Meinung
angeschlossen und die Idee in eine Verordnung gegossen.
Telekommunikationsanbieter wie die Telekom oder die Vodafone-Tochter Kabel
Deutschland dürfen damit unter dem Label „Spezialdienste“ künftig
Überholspuren im Netz anbieten. Wer mehr zahlt, dessen Daten werden
schneller transportiert.
Bislang galt das ungeschriebene Gesetz der Netzneutralität: Alle
Datenpakete, ganz gleich ob sie zu Videos gehören, zu E-Mails oder zu
Spielen, werden gleich schnell übertragen. Mit den Spezialdiensten – den
Überholspuren im Netz für die Anbieter von Inhalten, die mehr zahlen – wird
das ein Ende haben. Selbst fahrende Autos und Telemedizin sind Anwendungen,
die im Vorfeld der Entscheidung regelmäßig als Argument für Spezialdienste
herhalten mussten. Wer will schon, dass das Auto hakt?
Die Fahrzeughersteller wollen es jedenfalls nicht. Und deshalb haben sie
einen Plan. „Wir legen die Autos so an, dass sie ohne Internetverbindung
fahren können“, sagt Daimler-Sprecher Bernhard Weidemann. Zwar sei das
Internet hilfreich, etwa wenn es darum gehe, die Fahrzeuge mit
Informationen über Baustellen oder Umleitungen zu füttern. „Aber es darf
nicht von einer Internetverbindung abhängig sein, sonst könnte man nur in
gut vernetzten Gegenden fahren.“
## Viel Kritik
Ähnlich sehen das auch andere Hersteller. „Die BMW Group entwickelt das
automatisierte Fahren ohne Abhängigkeiten vom Internet“, sagt Sprecherin
Nadja Horn. Auch Technikexperten warnen vor dem Auto mit Internetanschluss:
Schon weil es Angriffe durch Hacker deutlich vereinfacht.
Die Autohersteller sind es also schon mal nicht, die laut nach
Überholspuren für ihre Daten rufen. Selbst fahrende Autos sind ohnehin
Zukunft. Aber Telemedizin, die gibt es schon jetzt. Und Telemedizin ist
neben den selbst fahrenden Autos das zweite Argument der Befürworter von
Überholspuren im Netz. Noch so ein Horrorszenario: Die Operation via
Internet – und die Daten werden nicht übertragen, weil das Netz ruckelt.
Tja, hätten Sie mal besser einen Spezialdienst gebucht.
Im Robert-Bosch-Krankenhaus in Stuttgart müssen seit etwa neun Jahren
Patienten nicht mehr für jede Kleinigkeit vor Ort sein. Vor allem geht es
um Beobachtung: Chronisch Kranke schicken regelmäßig ihre Vitaldaten vom
Wohnzimmer aus an die Klinik. So will man Auffälligkeiten schneller
erkennen.
Mark Dominik Alscher, geschäftsführender Ärztlicher Direktor des
Robert-Bosch-Krankenhauses, bezeichnet die Computer-OP „eher als Fiktion“.
Die Anwendungen, die es heute schon gebe, liefen über die Telefonleitung.
Per analoges Modem. Doch Patienten äußerten zunehmend den Wunsch, auch
Dienste über das Internet nutzen zu können. Videoschalten zum Beispiel.
Dann kann die Fachärztin auf die komische Stelle am Bein schauen, ohne dass
der Patient gleich in die nächste Stadt fahren muss.
Telekom-Vorstand Timotheus Höttges hatte direkt nach der Entscheidung des
EU-Parlaments in einem Blog-Beitrag gleich mal seine Pläne skizziert. Eine
„Umsatzbeteiligung von ein paar Prozent“ für Start-ups schwebe ihm vor. Als
„fairer Beitrag“ für die Nutzung der Netzinfrastruktur. Was Höttges nicht
schreibt: Dafür zahlt bereits, wer einen Anschluss hat.
Interessant ist: Obwohl Höttges bei Start-ups sehr konkret wird, geht er in
Sachen Spezialdienste für Fahrzeuge nicht weiter ins Detail. Eine
verpflichtende Umsatzbeteiligung für Autohersteller? Oder Kliniken? Das war
ihm dann wohl doch zu verwegen.
Für Martin Schmucker vom Start-up Iversity könnte eine Überholspur
eigentlich interessant sein. Die junge Firma bietet Onlinekurse an.
Präsentationen erstellen, Einführung in die Betriebswirtschaftslehre. Es
wäre schon gut, wenn die Lernvideos bei den Teilnehmern stabil liefen. Doch
Schmucker sagt: „Wir wollen den Marktvorteil gar nicht, wir wollen, dass
alle Marktteilnehmer gleichberechtigten Zugang haben.“
„Ein paar Prozent Umsatzbeteiligung wären für uns existenzbedrohend“, sagt
Gerald Schönbucher, Gründer des Internetkaufhauses Hitmeister. Im
E-Commerce feilsche man teilweise um Nachkommastellen, die Margen seien
minimal.
Krankenhaus-Geschäftsführer Alscher fällt tatsächlich ein Beispiel ein, bei
dem es für die Mediziner auf eine stabile und schnelle Internetverbindung
ankommt: der Überwachung von Schlaganfallpatienten. Innerhalb sehr kurzer
Zeit müsse da ein – gegebenenfalls zugeschalteter – Neurologe beurteilen,
welche Medikation angesagt sei. Stürzt dabei ständig das Video ab – nicht
gut. Für ihn gelte also: Medizinischer Spezialdienst – ja, wenn damit die
Datenübertragung stabiler wird.
Die Voraussetzung für einen solchen Bedarf wären allerdings knappe
Netzkapazitäten. Besteht denn Staugefahr im Internet?
## Viel Rendite
Wer die Netzbetreiber nach der Auslastung ihrer Infrastruktur fragt, erntet
Schweigen. Von den bundesweit agierenden Anbietern teilt lediglich Vodafone
mit, dass auch in Hochzeiten zwischen 18 und 22 Uhr für die Kunden „in der
Regel ausreichend Bandbreite“ zur Verfügung stehe. Schlimme Knappheit
klingt anders.
Wo ist also das Problem, für das die Überholspuren die Lösung sein sollen?
Es könnte bei den Netzbetreibern selbst liegen. Denn die Datenmengen, die
Nutzer über das Internet abrufen und verschicken, nehmen zu. Gut möglich,
dass die verfügbare Bandbreite da irgendwann nicht mithalten kann. Und wo
Stau ist, werden Überholspuren für Mehrzahler auf einmal interessant. Die
Alternative ist der Ausbau des Netzes. Doch der kostet – und die
Überholspuren bringen Geld ein. Die Knappheit im Netz würde somit vom
Sorgenkind zum Renditebringer.
Kein Wunder, dass die Netzbetreiber alles andere als unglücklich sind über
die Entscheidung des EU-Parlaments. Auch wenn sie das nicht zu deutlich zur
Schau stellen. Telekom-Chef Höttges nennt die Entscheidung einen „durchaus
ausgewogenen“ Kompromiss. Telefónica-Sprecher Ralf Opalka sagt, man teile
das Ziel des EU-Parlaments, „den Zugang zum freien Internet nach dem
Best-Effort-Prinzip zu schützen“. „Best-Effort-Prinzip“ heißt, dass alle
Daten gleichberechtigt transportiert werden. Genau diese Gleichberechtigung
hat das EU-Parlament aber ausgehöhlt.
Eine eindeutige Absage kommt nur auf regionaler Ebene. So sagt
Netcologne-Geschäftsführer Jost Hermanns: „Im Gegensatz zu international
agierenden, marktmächtigen Unternehmen wären wir als regionaler Anbieter
nicht in der Lage, solche Marktmechanismen durchzusetzen, und wir sehen
auch keine Veranlassung dazu.“
„Die Telekom nutzt ihre Monopolstellung aus“, kritisiert
Start-up-Mitarbeiter Schmucker. „Wegelagerei“, sagt Gründer Schönbucher.
Beide wollen jedenfalls nicht ohne Weiteres zahlen, wenn ein Netzbetreiber
eines Tages Geld von ihnen verlangt.
8 Nov 2015
## LINKS
[1] /Aufweichung-der-Netzneutralitaet/!5246903/
## AUTOREN
Svenja Bergt
## TAGS
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