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# taz.de -- Schulsozialarbeit in Deutschland: Die Rettung der Kinder
> Schulsozialarbeiter sind Psychologen, Manager und Kummerkasten zugleich.
> Der „am schlechtesten bezahlte akademische Beruf“, sagt Brigitte Thull.
Bild: „Ich hatte mehrfach andere Ideen und Angebote. Aber das hier ist mein D…
Aachen taz | Um 18.18 Uhr macht Brigitte Thull den PC aus. Eine
nennenswerte Pause hatte es in elf Stunden Arbeitszeit nicht gegeben. Kurze
Momente nur für sich hatte sie auch erst am späten Nachmittag.
Ein ganz normaler Arbeitstag für die 54-jährige Schulsozialarbeiterin an
der städtischen Gesamtschule Aachen-Brand. Um 7.20 Uhr, lange bevor die
ersten Schüler angeschlurft kamen, hatte Thull ihr Büro im Erdgeschoss
aufgeschlossen. „Wir sind immer vor den Kindern da“, sagt Thull, „manche
sind froh, wenn gerade morgens jemand zum Ansprechen da ist.“ Um 7.55 Uhr
sind die ersten Aufgaben verteilt: „Okay, Marie*, machst du die
Spieleausleihe in der Pause? Tim, heute Schüler-Café?“ Fünftklässlerin Ni…
hilft bei den Matten im Theaterraum.
Erstes Gewimmel im Büro. Tobias wird kurz in den Arm genommen. „Seine
Eltern haben sich gerade getrennt“, sagt Thull.
8.05 Uhr: Klasse 5.4, Wahrnehmungstraining im „Stille-Spiele-Raum“. 26
Kinder liegen auf dem Rücken. „Das Wichtigste ist“, sagt Brigitte Thull
freundlich-bestimmt, „dass du auf deiner Matte ganz bei dir bleibst.“ Der
Gong erklingt, es ist tatsächlich schlagartig ruhig. 30 Minuten
Fantasiereise für 10- und 11-Jährige.
## „Es hat sich so frei angefühlt“
Es geht um Körpergefühl, Konzentration, Koordination. Bein aufstellen,
Schultern kreisen lassen, tief atmen. Manche verwechseln Schultern mit dem
ganzen Arm, andere lechts und rinks. „Es hat sich so frei angefühlt“, sagt
einer nachher. „Ich habe das Blut durch die Adern fließen gefühlt“, meint
eine. Brigitte Thull lächelt.
8.57 Uhr: Klasse 5.3, Fragebogenaktion. Was gefällt mir, was nicht, Skala
von 1 bis 10, wie sind die Jungs („cool“), die Mädchen (“oft sehr
unterhaltsam“); wie wichtig ist der Klassenverbund („sehr“)? Viele Kinder
sind unruhig, quasseln – und schreiben: „Es ist oft zu laut.“
Auf dem Weg zurück ins Büro alle paar Meter ein Kurzgespräch: „Frau Thull,
kannst du mal? … Brigitte, machen wir das Treffen lieber um 14.45?“ So wird
das den ganzen Tag gehen. „Du kommst nie ohne etwas von hier nach da.“
## Brigitte ohne igitt
Die Diplom-Sozialpädagogin, Spitzname Bre (“das steht für Brigitte ohne
igitt“), macht den Job seit zwanzig Jahren. „Ich hatte mehrfach andere
Ideen und Angebote. Aber das hier ist mein Ding“: Schulsozialarbeit, der,
wie Thull sagt, „am schlechtesten bezahlte akademische Beruf“. Neben dem
Fulltimejob arbeitet sie in eigener Praxis als Gesprächs- und
Gestalttherapeutin, Kinesiologin, Heilpraktikerin.
10 Uhr: Leon ist der erste im Einzelgespräch heute. Der 14-jährige Schlacks
artikuliert gut, hört aufmerksam zu, wirkt sehr höflich, fast
partnerschaftlich. Doch, seit den Therapiestunden laufe es deutlich besser,
sagt er, er habe sich mehr unter Kontrolle. Thull redet ihm gut zu. Ein
ganz lieber Kerl, oder?
„Problemschüler“, sagt Thull. „Leon hat ’ne lange Akte. Im Gespräch i…
gut. Aber er hat andere gepiesackt und böse beleidigt, auch geschlagen.“
Beim Gespräch sollte der Vater auf Leons Wunsch nicht dabei sein, „weil der
mich vor allen immer nur fertig machen will.“ Thull sagt: „Dem Leon fehlt
’ne männliche Identifikationsperson. Aber wir sind auf einem guten Weg.“
## Elternhäuser sind zunehmend das Problem, nicht die Lösung
Schule heute: Klassische Familienverbände funktionieren immer seltener, die
Ansprüche an die Lernanstalten werden größer. Die Elternhäuser sind
zunehmend das Problem, nicht die Lösung. Zudem hätten „die Kinder nach der
Grundschule immer unterschiedlichere Fähigkeiten – geistig, körperlich,
sozial. Immer mehr Kindern fehlen Basics wie Konzentrationsfähigkeit,
Durchhaltevermögen, Empathie.“ Und dann seien da, sagt Thull,
„superintelligente Kinder mit Sprachproblemen“ – wegen Zuwanderung.
„Eigentlich bräuchten wir viel mehr Leute.“
10.25 Uhr: Große Pause. Für Thull nicht mal ’ne kleine. Sie macht
Pausenaufsicht, weil die eingeteilte Lehrerin aufgehalten worden ist.
Zwischendurch Medikamentenausgabe; vereinzelt ist auch Ritalin dabei. Um
10.50 Uhr Schnelldurchsicht der Umfrage aus der 5.3. Der Klassenlehrer
stöhnt: „Puuuh, das klingt sehr problematisch mit Ben.“ Den hatten viele
Mitschüler als nervig, störend und beleidigend eingestuft: „Sehr akresiv“
sei der und beschimpfe einen „mit du Misstgebut oder so“. Ben schrieb: „I…
fühle mich unwohl in der Klasse, weil mich die anderen immer hänseln.“
Brigitte Thull sagt: „Wir werden ein Konzept entwickeln, mit Einzel- und
Elterngesprächen und Konzentrationstrainings in, wie wir das nennen,
persönlichkeitsstärkenden Gruppen.“ Es gilt, den Kreislauf zu stoppen:
zurückschlagen, zurückhänseln und -treten. Lernziel: Frustrationstoleranz.
Oft, sagt Thull, könnten die Kinder wenig dafür: „Vater weg,
Alkoholprobleme zu Hause, Arbeitslosigkeit, Krankheit – das ganze Feld.“ Es
folgten Essstörungen und Ängste, auch Verwahrlosung.
## Ein Alarmknopf an der Schläfe
11 Uhr. Gespräch mit Maik (11). Der sagt, er könne sich mittlerweile
„besser untermischen in der Klasse“. Und wenn die Aggressivität wieder in
ihm aufflamme? „Dann“, der Junge tippt an seine Schläfe, „weiß ich: rot…
Alarmknopf; aber den brauche ich immer seltener.“ Thull lobt ihn. Probleme?
Ja, sagt Maik, der Vater seines Freundes habe ihn neulich rausgeworfen und
bis auf die Straße brüllend verfolgt. „Aber der ist doch psychophren.“
Thull müht sich, nicht loszulachen bei dem Begriff. „Ein Kind hat mal
gesagt: Ich geh zum Psychopathen statt zum Psychologen.“
Schnell den dringenden Anruf beim Jugendamt erledigen wegen Ina: „Vater
heroinabhängig, Wohnung gekündigt … die hat wohl kein Geld für ’ne
Winterjacke …, ja, Hilfeplangespräch.“ Dann kommt Ayshe (11). Die ist
massiv gemobbt worden wegen ihres Übergewichts. Nun hat sie 15 Kilo
abgenommen in fünf Monaten. „Es war hammerhart ohne die Süßigkeiten, aber
es geht!“, sagt sie und strahlt kokett hinter ihrer schicken neuen Brille.
„Die hat sich toll gemacht“, freut sich Thull. „Anfangs saß sie nur heul…
vor mir. Missbrauch. Aber der Vater ist jetzt raus.“
In Deutschland gibt es 11,1 Millionen Schüler an 34.000 Schulen mit 800.000
Lehrern – und 7.000 Schulsozialarbeiter. Ihre Finanzierung gleicht einem
Flickenteppich: EU-Fonds, Bund, Länder und Kommunen schieben die
Verantwortung gern weiter. Die Folge ist Bildungspolitik nach Kassenlage,
gern mit befristeten Stellen. Michael Töpler, Vize des Bundeselternrats,
sagt: „Schulsozialarbeit ist kontinuierliche Beziehungsarbeit und geht über
den Schulalltag hinaus. Dafür sind Beständigkeit und Verlässlichkeit
erforderlich.“
## Den Lebensraum Schule ausfüllen
Andere Länder haben das verstanden: In Großbritannien, Finnland und Holland
sind Lehrer-Sozialarbeiter-Teams selbstverständlich. Thull sagt, erst
„Schulsozialarbeit mit seinen direkten, niederschwelligen Angeboten“ könne
„den Lebensraum Schule zur Gänze ausfüllen“.
13.25 Uhr: Mittagspause, fast 15 Minuten heute. Brigitte Thull nimmt einen
Salat in der Mensa. Dabei kauend Networking mit Lehrern: „Verdacht auf
Depression – gut, wir leiern da was an …“ 13.40 Uhr: Ab ins Fitnesscenter
nebenan. Ein Dutzend Schülerinnen macht Zumba. Über Wochen guckt sich Thull
alle Schul-AGs an. Talente-Casting für das Schulfest. „Doch! Das wird ’ne
tolle Nummer. Machen wir, klar.“ Beim Fest sollen alle auf die Bühne: Fast
1.300 Schüler, 120 Lehrer. Im Büro legt Thull die DVD von 2014 ein. Ein
Schüler aus der 11 hat den Film gemacht – sehr witzig, schnelle Schnitte,
tolle Musik. „Ja, wir haben richtig kreative Kids dabei.“
14.25 Uhr. Stippvisite beim Schulleiter. Andreas Lux findet die Frage nach
der Wertschätzung von Schulsozialarbeitern geradezu lästig. „Was soll man
da noch sagen! Ich würde auf viele Lehrer verzichten können, aber nicht auf
sie.“ Die Arbeit reiche auch „locker für vier Leute“. Thull sitzt daneben
und nickt. „Aber“, sagt der Schulchef, „wir sind mit zwei Stellen ja noch
gut aufgestellt.“
## Ein Seitenhieb aufs Gymnasium
Andreas Lux setzt noch einen Hieb auf so manches Gymnasium: „Durch
Selektion gut zu sein kann jede Schule. Da brauche ich mich nicht um
Problemkinder zu kümmern. Das ist bei uns anders. Wir können nicht alle
Kinder retten, aber viele.“ Und an die Schulbehörden – „Ich muss aufpass…
wie ich formuliere“ – gerichtet: „Alles soll besser werden, aber alles ist
gedeckelt. Es kommt immer mehr von außen und wir als Schule müssen immer
mehr leisten.“
15.40 Uhr. Anruf einer Lehrerin. Mara (12) hat mehrere Jungs angegrabscht,
mehrfach, offensiv. „Was machen wir?“ Die Eltern informieren? „Ich würde
das wissen wollen als Mutter“, sagt Thull. Hmm. Vertagen auf morgen. Zwei
Sechstklässlerinnen warten zum nächsten Casting. Sie singen im Duett,
witzig, empathisch, gekonnt. „Machen wir!“ Draußen wartet schon die Mutter
von Sarah (11). Die Alleinerziehende kommt mit ihrer Tochter nicht klar:
„Die ist so aufmüpfig, frech wie nix. Vorgestern hat sie Arschloch zu mir
gesagt.“ Thull schlägt die Erziehungsberatungsstelle vor. Ja, gern. Die
Mutter macht einen sehr resoluten, klaren Eindruck.
17.15 Uhr. Jetzt noch Mails, Berichte schreiben, für die Stadt ein paar
Statistiken. „Und die Zeiterfassungskarte ausfüllen.“ So heißt Stechuhr a…
schulbürokratisch. Zusätzliche Hausbesuche, Jugendamtstermine und große
Konferenzen stehen erst wieder in der nächsten Woche an. Was machen
eigentlich Schulsozialarbeiter? Alles, außer Pausen. Und dabei viel Kaffee
trinken.
* Alle Schülernamen geändert.
8 Nov 2015
## AUTOREN
Bernd Müllender
## TAGS
Schule
Sozialarbeit
Kinder
Sozialarbeit
Sexualität
Polizei Berlin
Schule
Bildung
OECD
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