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# taz.de -- Messermord an Schule in Lünen: Zu wenig Personal
> Ein Achtklässler hat in Lünen einen Mitschüler erstochen. Im Netz wird
> über den Täter spekuliert. Das wichtigere Thema ist aber: Sozialarbeit an
> Schulen.
Bild: Messermord von Lünen: Herkunftsdebatte statt Prävention
Es ist eine blutige Tat, begangen von einem 15-jährigen Schüler. Was am
Dienstag kurz nach 8 Uhr auf den Fluren einer Gesamtschule in Lünen bei
Dortmund passiert ist, gibt Anlass zu Fassungslosigkeit und Trauer, zu
berechtigten Fragen – und leider auch zu üblen Spekulationen.
Dabei hatte die Dortmunder Polizei die Fakten zur Tat unmittelbar nach dem
Verhör des festgenommenen mutmaßlichen Täters bekannt gegeben. Die sind,
kurz zusammengefasst: Ein verhaltensauffälliger Jugendlicher wartet morgens
zusammen mit seiner Mutter auf einen Termin bei der Sozialarbeiterin seiner
Schule. Ein 14-jähriger Mitschüler kommt vorbei und blickt, nach Angaben
des Täters, dessen Mutter mehrfach „provozierend“ an. Daraufhin rammt der
Sohn dem Mitschüler ein Messer in den Hals. Einfach so.
Es ist eine in Deutschland selten grausame Tat: Ein Achtklässler bringt
einen Klassenkameraden um, vor den Augen seiner Mutter, vor dem Büro der
Sozialarbeiterin. Motiv: der schiefe Blick eines verhassten Gleichaltrigen.
Die Staatsanwaltschaft hat Haftbefehl wegen Mordes beantragt.
Dass diese Tat Bestürzung hervorruft, ist verständlich. Wie auch nicht? Was
jedoch nicht minder erschüttert, ist die Tatsache, dass im Netz schon
Erklärungen und Rückschlüsse über die Tat kursieren, noch bevor an der
Käthe-Kollwitz-Gesamtschule überhaupt eine Schweigeminute abgehalten wurde.
Geschweige denn die zuständige Staatsanwaltschaft Zeugen vernommen oder
die Hintergründe der Tat ermittelt hätte.
Die Mutmaßungen haben – Überraschung! – vor allem mit der Herkunft des
Täters und der angenommenen Religiosität zu tun. Wie so oft, wenn eine
Gewalttat von jemandem begangen wurde, der zwar in Deutschland geboren
wurde und die deutsche Staatsbürgerschaft innehat, wie die Polizei
klugerweise sofort klargestellt hat, aber in den Augen mancher dennoch
nicht als Deutscher gilt.
Kostprobe gefällig? Ein Twitternutzer schließt von der zweiten
Staatsbürgerschaft des Täters (kasachisch) auf seine mutmaßliche
Religiosität (welche Religion kann wohl gemeint sein?), um pauschal
jegliche Zuwanderung als politisch gewollten Irrsinn abzutun. O-Ton: „Und
die Volldeppen wollen immer noch mehr testosteron- und religionsverseuchte
Typen und ihre wahnsinnig erziehungsbegabten toleranten Familien“ nach
Deutschland holen. An anderer Stelle fordern die Kommentatoren so
unverhohlen wie unreflektiert „Merkel muss weg“. Wer solche Schlüsse zieht,
offenbart, möglicherweise selbst „erziehungsbegabte“ Eltern gehabt zu
haben.
Dabei weist das Drama aus Lünen auf ein viel drängenderes Problem als auf
die angebliche Ausländerkriminalität. Nämlich, was man mit Kindern und
Jugendlichen macht, die keine Lehrerin und kein Lehrer mehr in den Griff
bekommt. Die wie der 15-jährige Täter aus Lünen der Schule bereits als
„aggressiv und unbeschulbar“ bekannt sind und auch an einer anderen Schule
nicht gebändigt werden können.
Spricht man SchulsozialarbeiterInnen, die im nahen Dortmund an
Gesamtschulen im Einsatz sind, versteht man schnell, woran es fehlt:
Personal. Zwar gibt es mittlerweile an den meisten Schulen immerhin zwei
SozialarbeiterInnen, wofür sich Dortmund als Vorbild rühmt, doch bei
Schülerzahlen von 600 bis 1.000 pro Schule kann man sich ausmalen, wie viel
Präventionsarbeit da noch möglich ist.
Der Tenor der SozialarbeiterInnen: Es gibt so viele schwere Fälle, dass an
Prävention nicht zu denken ist. Und wenn ein Schüler dann nicht mehr
beschult werden kann, bleibt entweder Einzelunterricht oder psychiatrische
Behandlung. In beiden Fällen heißt das dann: Das war’s dann wohl mit den
Zukunftsperspektiven.
In seltenen Fällen bedeutet eine Verbannung von mehreren Schulen für
Jugendliche auch – ein ständiger Ortswechsel, teilweise über die
Bundeslandgrenzen hinweg. Und damit: neue BetreuerInnen, die wieder von
vorne anfangen.
## Mehr als Stoffvermittlung
Was bleibt also, außer tröstende Worte zu finden und die Hinterbliebenen zu
begleiten? Zum einen: Personal aufstocken. In den 70er Jahren, erzählen
erfahrene SchulsozialarbeiterInnen, gab es drei oder vier von ihnen an
einer Schule. Und bei den Gesamtschulen ging es um mehr als nur um
Stoffvermittlung, sondern auch um Freizeitgestaltung und Hilfestellung auch
in außerschulischen Lebenslagen. Dahin müssen die Schulen – mit mehr
Fachkräften – zurück.
Und zum Zweiten, wie es die Gewerkschaften in Nordrhein-Westfalen fordern:
SozialarbeiterInnen sollten an allen Schulformen verpflichtend zum Einsatz
kommen. Und zwar vor allem dort, wo Prävention am meisten Sinn macht. Dort,
wo man Kinder noch eher auffangen und Halt geben kann: in der Grundschule.
In einer früheren Version haben wir manchmal SoziologInnen statt
SozialarbeiterInnen geschrieben. Das haben wir korrigiert.
24 Jan 2018
## AUTOREN
Ralf Pauli
## TAGS
Sozialarbeit
Nordrhein-Westfalen
Herkunft
Mord
Sozialarbeit
Jugendgewalt
Schule
Deutschland
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