| # taz.de -- Interview mit Berliner Schulpsychologen: "Suizid ist eine ganz diff… | |
| > Angriffe mit Scheren in der ersten Klasse, Fußtritte gegen LehrerInnen, | |
| > Mobbing: Ein Schulpsychologe berichtet von seinem Arbeitsalltag | |
| Bild: Viele Gewaltmeldungen kommen von Grundschulen. | |
| taz: Herr Steininger, Sie sind einer von 15 Schulpsychologen für | |
| Gewaltprävention und Krisenintervention in Berlin. Diese Stellen wurden | |
| infolge des Amoklaufs von Erfurt vor zehn Jahren eingerichtet. Wann werden | |
| Sie an Schulen gerufen? | |
| Wolfgang Steininger: Immer dann, wenn es pädagogische Grenzsituationen | |
| gibt. | |
| Wann ist das der Fall? | |
| Pädagogische Grenzsituationen sind nach Gefährdungsgraden eingeteilt. Zum | |
| Gefährdungsgrad 3 zählen die schlimmsten Sachen, die passieren können: | |
| Amok, Brand, Epidemie, Vergiftung, Geiselnahme, Sprengsatz, Suizid, | |
| Waffengebrauch, Tod. Gefährdungsgrad 2 sind Amokdrohung, Bedrohung, | |
| Gewaltdarstellung auf Datenträgern, Gewalt in der Familie, Handeln mit | |
| Suchtmitteln, Nötigung, Erpressung, Raub, schwere körperliche Gewalt, | |
| sexuelle Übergriffe, Suizidversuch, Übergriffe auf Schulpersonal, | |
| Vandalismus, verfassungsfeindliche Äußerungen, Waffenbesitz. Tagtäglich zu | |
| tun haben wir mit dem Gefährdungsgrad 1. | |
| Und was gehört dazu? | |
| Beleidigung, Drohung, Tätlichkeit, Mobbing, Suchtmittelkonsum, Äußerung und | |
| Ankündigung von Suizid oder der Tod von Schulangehörigen infolge eines | |
| Unfalls. | |
| Welche Altersstufen sind am auffälligsten? | |
| Das höchste Aufkommen haben wir an Grundschulen. Die sind auch prozentual | |
| am höchsten vertreten. Wir haben schwere Gewaltmeldungen von Schülern in | |
| der ersten und zweiten Klasse. | |
| Tatsächlich, in der ersten und zweiten Klasse? | |
| Ja, da greifen Schüler schon zu extremen Handlungsweisen, gefährden sich | |
| selbst und andere. Sie gehen mit einer Schere aufeinander los oder greifen | |
| mit Fußtritten und Fausthieben Lehrerinnen und Lehrer an. Dann kommen die | |
| achten und neunten Klassen. Im Abiturbereich haben wir weniger Probleme mit | |
| dem Sozialverhalten, sondern mehr mit der Ichsteuerung, suizidalen | |
| Tendenzen. Hauptsächlich habe ich mit Schülern zu tun, die sich nicht | |
| regelkonform verhalten und versuchen, das System Schule außer Kraft zu | |
| setzen. | |
| Wie versuchen das die Schüler? | |
| Indem sie ganz bewusst Regeln überschreiten, Mitschüler und Lehrkräfte | |
| provozieren und auch vor Tätlichkeiten nicht zurückschrecken. | |
| Wie erleben Sie die Schüler, mit denen Sie zu tun haben? | |
| Was mich erschüttert, sind emotionale Verwahrlosung und mangelnde Empathie. | |
| Ich hatte einmal mit Schülern einer 10. Klasse zu tun, die an einer | |
| U-Bahn-Schlägerei beteiligt waren. Ihr Unrechtsbewusstsein war überhaupt | |
| nicht nachhaltig. Ich habe mich gefragt, wie es sein kann, dass sie | |
| emotional so verwahrlost sind. Oder stellen Sie sich eine Lehrerin vor, mit | |
| 30 Jahren Berufserfahrung, die mit einem Faustschlag eines Schülers | |
| niedergestreckt wird. Früher haben Schulsenatoren mit angegriffenen Lehrern | |
| persönlich telefoniert. Das hat den Kollegen gut getan. Davon ist man aber | |
| abgekommen, und die Lehrer fragen sich, womit sie das verdient haben. Es | |
| kann nicht sein, dass Lehrer zum Freiwild werden. | |
| Was war Ihr jüngster Fall? | |
| Eine Suizidankündigung einer Gymnasiastin in einem Chatraum im Internet. | |
| Ein Schüler hatte das gelesen und die Vertrauenslehrerin informiert. Suizid | |
| ist eine ganz diffizile Sache. Oft ist es so, dass Signale gesendet werden | |
| mit dem Wunsch, dass sich etwas ändert, aber die Absicht muss nicht | |
| unbedingt ernsthaft sein. | |
| Was können bei Schülern Gründe für Suizidgedanken sein? | |
| Oft geht es um Geschwisterrivalität, mangelnde Empathie im Elternhaus und | |
| allgemeinen Weltschmerz. In der Pubertät ist es normal, sich infrage zu | |
| stellen, sich neu zu konstituieren, aber auch bestimmten Belastungen | |
| standzuhalten. Es gibt eine Erwartungshaltung der Eltern, bewussten und | |
| unbewussten Druck, Insuffizienzgefühle. Bei dieser Problematik ist der | |
| Kontakt zu den Elternhäusern ein ganz großes Problem. | |
| Wieso? | |
| Manche sind dankbar und erschüttert, andere sind hysterisch oder drohen mit | |
| einem Anwalt. Oft haben Eltern Angst, dass ein Außenstehender ihr System zu | |
| Hause dynamisiert. Es gibt Eltern, die sagen: „Den Scheiß hör ich mir nicht | |
| an“, und gehen. Auch wenn gegen einen Schüler eine Vielzahl von | |
| Verfehlungen vorliegen, höre ich oft von Eltern, dass sie ihrem Kind | |
| glauben, obwohl sie gar nicht dabei waren. Dann fehlt die Basis. | |
| In welchen Bezirken haben die Schulpsychologen am meisten zu tun? | |
| Vor allem in Mitte, Neukölln und Kreuzberg. Bis vor einigen Jahren wurden | |
| die Bezirke anhand eines Meldeverfahrens verglichen. Da kam raus, dass | |
| Neukölln nach wie vor Spitzenreiter war. Von diesem Verfahren sind wir | |
| abgerückt. Denn dieser Indikator spiegelt nur indirekt wider, was an den | |
| Schulen los ist. Es gibt Spannungsspitzen und auch immer wieder | |
| Wellenbewegungen. Wenn eine Schule keine Hilfe braucht und Vorfälle nicht | |
| meldet, heißt das nicht, dass sie sich nicht mit Gewalt beschäftigt. | |
| Vielmehr ist diese Schule vielleicht im Krisenmanagement professioneller | |
| geworden und nutzt stärker schulinterne Mittel zur Konfliktaufarbeitung. | |
| Wie viele Gewaltfälle wurden 2011 in Berlin gemeldet? | |
| Im Schuljahr 2010/2011 gab es 1.468 Meldungen. Im Vorjahr 1.576 und | |
| 2008/2009 waren es 1.817. Bei rund 1.000 Schulen macht das zwei Meldungen | |
| pro Schule pro Schuljahr. | |
| Wie ist denn die Situation an den Schulen im Bezirk Lichtenberg, für den | |
| Sie zuständig sind? | |
| Da haben wir am meisten an Grund- und Sonderschulen zu tun. Wir waren im | |
| vorderen Drittel, jetzt sind wir bei den Gewaltvorkommen im Mittelfeld. | |
| Begegnen Ihnen die Schüler, mit denen Sie zu tun haben, auch mit Gewalt? | |
| Weniger, weil zwischen Vorfall und Aufarbeitung eine Ruhephase gewesen ist | |
| und ich für die meisten Schüler eine total fremde Person bin. Wir streben | |
| immer einen Täter-Opfer-Ausgleich an. Das kann „die Hand geben“ sein, eine | |
| kleine Aufmerksamkeit oder bei Zickenalarm Auflagen wie einen gemeinsamen | |
| Kinobesuch – in der Hoffnung, dass so ein minimaler sozialer Verbund | |
| entsteht. Aber es gibt Schüler, die sich verweigern. | |
| Was machen Sie mit denen? | |
| Wenn ein Kind mit schulpsychologischen Mitteln nicht erreichbar ist, die | |
| psychosoziale Verwahrlosung einen bestimmten Punkt erreicht hat, bleibt oft | |
| nur die Möglichkeit, dieses Kind aus seinem angestammten sozialen Milieu | |
| herauszunehmen. Wenn am Abendbrottisch ein Elternteil über die Schule sagt, | |
| die hätten alle ein Rad ab, dann ist das für ein Kind wie ein Freibrief. | |
| Wie oft denken Sie, dass nicht die Kinder, sondern die Eltern Hilfe | |
| bräuchten? | |
| Oft. Die Kinder sind nur Symptomträger. Wir als Schule schaffen es nicht, | |
| die Eltern zu erziehen. Wenn ein Elternhaus einem Lehrer, einer Lehrerin | |
| oder einer Schule ablehnend gegenübersteht, haben wir ganz, ganz schlechte | |
| Karten, weil das Kind in seinen negativen Sozialhandlungen gedeckt wird. | |
| Zieht sich das durch alle Schichten oder reden Sie von Hartz-IV-Familien? | |
| Es sind bildungsferne Eltern, die mit sich und ihrer sozialen Situation | |
| beschäftigt sind und selbst keinen strukturiertes Leben haben. Manchmal | |
| sind die Kinder die einzigen, die eine soziale Verantwortung haben, weil | |
| sie morgens in der Schule sein müssen. Wenn wir zu Elternversammlungen | |
| einladen, sind die Eltern, die wir gerne erreichen möchten, nicht da. An | |
| einer Grundschule haben wir neulich eine Veranstaltung zu Aggressionen und | |
| Erziehung gemacht. Bei sechs Klassen hätten etwa 100 Eltern da sein können. | |
| Aber wir waren vielleicht acht. Wenn im Leben dieser Kinder kein Wunder | |
| passiert, werden sie mit dem Gesetz der Straße groß. | |
| Was für ein Wunder? | |
| Ein Verwandter zieht mit den Kindern aufs Land oder jemand erkennt eine | |
| Begabung, die die Kinder haben. Es ist wie ein Teufelskreis: Weil sie | |
| verhaltensauffällig sind, werden sie ausgeschlossen, beispielsweise vom | |
| Zirkusbesuch. Dann sind sie sauer, weil sie noch nie im Zirkus waren. Oder | |
| die Eltern bezahlen oder beantragen das Geld für eine Klassenfahrt nicht. | |
| Diese Kinder haben einen erhöhten pädagogischen Aufwand. Und sie treiben | |
| die Kolleginnen an den Rand des Leistbaren, weil es an grundlegenden | |
| Sozialnormen fehlt. | |
| Was meinen Sie mit grundlegenden Sozialnormen? | |
| Vor zehn Jahren haben meine Kollegen und ich uns noch gegenseitig Akten | |
| gezeigt, wenn Psychologen von „völlig unerzogenen Kindern“ schrieben. Heute | |
| sieht die Realität so aus, dass Kinder mit immer weniger sozialen | |
| Grundnormen wie „bitte“ und „danke“ oder Bedürfnisaufschub in die Schu… | |
| kommen und ihnen minimalste soziale Handlungsmuster fehlen. Ich hätte | |
| früher nicht gedacht, dass ich in meiner beruflichen Tätigkeit einmal mit | |
| polizeilichen Anzeigen gegenüber Schülern zu tun haben könnte. | |
| Wie könnte man diese Defizite auffangen? | |
| Vielleicht müsste ein Fach eingeführt werden, das sich soziales Lernen | |
| nennt, in dem es um das Einhalten von Regeln geht, um normale | |
| Gepflogenheiten und Konfliktverhalten. Die Schulen würden sich auch | |
| wünschen, dass Fähigkeiten wie mit der Schere umgehen, kleben, mit Tusche | |
| oder Buntpapier arbeiten bei allen Kindern da sind. Für viele Erstklässler | |
| ist das eine Überforderung. | |
| Was für Unterschiede erleben Sie bei Gewalt zwischen Jungs und Mädchen? | |
| In der Regel kann man sagen, dass 75 Prozent der Fälle Jungs betreffen und | |
| 25 Prozent Mädchen. Bei Mädchen handelt es sich in der Regel um Zickenalarm | |
| und Mobbing. Eine beliebte Sportart bei Mädchen ist, sich nach der Schule | |
| bei [1][jappy.de] zu beschimpfen. Sie kommen aus der Schule, schmeißen ihre | |
| Mappen in die Ecke, werfen ihre Angeln aus – der ist doof und die ist blöd | |
| – und warten, was kommt. Die Rechtschreibung ist nicht zu fassen, manchmal | |
| muss man das laut lesen, um es zu verstehen. | |
| Haben Sie als Schulpsychologe auch Erfolgserlebnisse? | |
| Ja. Das letzte Mal heute morgen! Eine Schulleiterin, die mich wegen eines | |
| Gewaltvorfalls angerufen hatte, fragte mich, was ich mit dem Schüler | |
| gemacht hätte, der gerade ein Praktikum macht. Sie befürchtete, er wäre | |
| rausgeflogen. Aber er wurde gelobt. | |
| 30 May 2012 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://jappy.de | |
| ## AUTOREN | |
| Barbara Bollwahn | |
| Barbara Bollwahn | |
| ## TAGS | |
| Sozialarbeit | |
| Gewalt gegen Kinder | |
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