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# taz.de -- Student leitet Flüchtlingsheim mit: Unser Herr Philipp
> In der Erstaufnahmeeinrichtung in Berlin-Wilmersdorf leben rund 800
> Flüchtlinge. Das funktioniert gut, weil ein Student von Empathie nicht
> nur redet.
Bild: Geht lieber helfen statt zur Uni: Philipp Bertram
BERLIN taz | Die kleine Gruppe kommt aus Syrien. In Bayern hat man sie nach
Berlin durchgewunken, nachts, ohne Papiere. Deshalb müssten sie sich
eigentlich sofort vor dem zuständigen Amt anstellen, bis jeder Einzelne
registriert ist. Aber es sind nur wenige Grad über null, sie haben kaum
warme Kleidung dabei. Der Großvater braucht eine Dialyse. Sie sind so müde,
dass sie kaum noch sprechen können. „Let me explain what I would like to
offer you“, sagt Philipp Bertram, als wäre sein Schreibtisch der Tresen
eines Reisebüros. Eine der Frauen greift nach der Hand der anderen, Bertram
nach dem Telefon. Einige Minuten später ist klar: Die fünf dürfen vorerst
hier bleiben, der alte Mann wird medizinisch versorgt.
Diese Szene wiederholt sich in diesem Büro täglich unzählige Male. In der
Notunterkunft im Alten Rathaus Berlin-Wilmersdorf wohnen um die 800
Flüchtlinge. Manche bleiben nur wenige Tage, andere Monate. Die Hälfte sind
Syrer, dazu kommen Afghanen, Iraker, Tschetschenen. Jeden Tag arbeiten hier
Hunderte Freiwillige. Noch vor einigen Wochen war Philipp Bertram einer von
ihnen. Als ehrenamtlicher Aktivist konnte er sich öffentlich aufregen, der
Bundespräsident halte mit seinem Besuch den Betrieb auf. Heute wird er
dafür bezahlt, solche Besuche zu koordinieren.
Mit 24 Jahren ist er stellvertretender Leiter der Unterkunft, die vom
Arbeiter-Samariter-Bund betrieben wird. Seinem Chef, Thomas de Vachroi, war
er gleich aufgefallen. Er sagt: „Philipp hatte sofort einen besonderen
Draht zu den Leuten. Jetzt muss er lernen, mit den Strukturen
klarzukommen.“ Das heißt: Er muss es allen recht machen. Den Flüchtlingen,
den Freiwilligen, seinem Arbeitgeber, dem Amt.
Philipp Bertram ist ein schlaksiger Typ, eleganter gekleidet als die
meisten hier – gut sitzender Mantel, den er auch im Büro fast nie auszieht,
Nerdbrille, adretter Pullover. Er ärgert sich über seine Haare, die lieber
schräg hochstehen, als ordentlich anzuliegen. Vor ein paar Monaten noch
studierte er VWL und Politikwissenschaft. Nebenher kellnerte er und jobbte
als Eventmanager, engagierte sich für queere Themen. Was man eben so macht
mit Anfang zwanzig.
Dann, 2015, kommt die Flüchtlingskrise. Bertram engagiert sich
ehrenamtlich. Sein Studium: plötzlich nicht mehr wichtig. Warum? „Ich
ertrage es nicht, dass all diese Menschen nur als Krise behandelt werden.
Man muss ihnen doch Würde geben in diesem beschissenen System.“ Er hilft in
Unterkünften in ganz Berlin, irgendwann auch in Dresden, wenn er dort am
Wochenende seine Familie besucht. Merkt sich, was gebraucht wird, was gut
funktioniert. Und steht an einem Augustmittag im Hof des leer stehenden
Rathauses Wilmersdorf, kurz nachdem die Nachricht herumging, dass hier noch
am selben Abend 250 Flüchtlinge einziehen sollen.
## Seine Chance
Noch ist außer ihm niemand da. Er weiß: Das ist seine Chance. Endlich kann
er vorne dabei sein, zeigen, was er kann, was er gelernt hat. Bei Facebook
erstellt er eine Gruppe: „Freiwillige helfen in Wilmersdorf“. Ein paar
Stunden später stehen 150 Helfer neben ihm auf dem Hof. Der
Katastrophenschutz des Arbeiter-Samariter-Bundes rückt an, sie bauen Betten
auf, schnüren Essenspakete, machen notdürftig sauber.
Um 20.20 Uhr, Bertram weiß das noch genau, fahren die Busse mit den ersten
Bewohnern vor. „Seit diesem Tag“, sagt er heute, „bin ich von dem Hof nic…
mehr weggekommen.“ Mittlerweile schläft er immerhin wieder regelmäßig. In
den ersten Wochen fand er nachts vor Sorge um die Bewohner kaum Ruhe.
Am Nachmittag kündigt das Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso),
das für die Registrierung der Flüchtlinge zuständig ist, plötzlich an, die
Plätze in der Wilmersdorfer Unterkunft auf 900 aufzustocken. Sofort laufen
die Drähte heiß: Helfer, Betten, Willkommenspakete müssen her. Abends
ebenso plötzlich die Absage: Heute kommen doch keine Flüchtlinge mehr.
Bertram hat seine Leute umsonst hergebeten.
Dasselbe Spielchen wiederholt sich am nächsten Tag: Ankündigung – hektische
Vorbereitungen – plötzliche Absage. Philipp Bertram wirft sich in seinen
Stuhl und sagt: „Die machen mich fertig. Da draußen vorm Lageso stehen
Hunderte Menschen in der Kälte. Familien mit Kindern, auch nachts. Und ich
darf niemanden mehr aufnehmen, obwohl ich Platz hätte!“ Die Erklärungen der
Behörden sind wechselhaft.
Wenn Bertram über Situationen wie diese spricht, lässt er seine Worte oft
nachhallen, blickt sein Gegenüber etwas länger an als üblich. Er erntet
gern Empörung, das kann er sich noch leisten, obwohl er jetzt
Hauptamtlicher ist. Aber die Vorgaben des Amtes umgehen kann er nicht.
Nähme er einfach mehr Menschen auf, als Plätze bewilligt sind, drohte dem
Haus die Schließung. Er muss schlucken, was ein Verwaltungsbeamter im gut
geheizten Büro festlegt. Trotzdem: „Die Menschen vor der Tür stehen lassen
kann ich einfach nicht.“
Wenn spät abends eine Familie dasteht, wird er wieder Aktivist. Ruft alte
Mitstreiter an, andere Unterkünfte, Kontakte bei Behörden. Nervt so lange,
bis die Menschen untergebracht sind. Gibt ihnen derweil etwas zu essen,
Pullover aus der Kleiderkammer. Verleiht seine Thermoskanne an einen frisch
gebackenen Vater, der sich später mit seinen ersten deutschen Worten auf
einem Post-it bedanken wird.
## Lebensmittelpunkt: das Alte Rathaus
Eigentlich wollte Philipp Bertram mal für Politiker arbeiten, vielleicht
selbst einer werden. Heute kann er aus dem Stehgreif das Prozedere eines
Schulantrags ebenso erklären wie einer jungen Mutter helfen, ihr Baby zu
stillen, ohne dass man viel dabei sieht. „Frag mal unseren Herrn Philipp“,
heißt es bei nahezu jedem Problem. Und Herr Philipp findet immer eine
Lösung. Deshalb, sagt sein Chef, funktioniere das Zusammenleben hier gut:
„Philipp besitzt Empathie. Die haben viele. Aber er kann auch danach
handeln.“
Alles andere in seinem Alltag hat sich verändert, sein Lebensmittelpunkt
ist das Alte Rathaus. Doch er achtet darauf, ab und an seine Familie zum
Essen zu treffen. Als eine Kollegin in einer Zigarettenpause fragt, warum
er denn nicht seinem Lebensgefährten nach Südafrika nachreise, zuckt er mit
den Schultern: „Und was soll ich dann da machen?“ Früher war er in der
Linkspartei aktiv, heute sagt er Sätze wie: „Die CDU tut von allen Parteien
hier in Wilmersdorf am meisten für die Flüchtlinge.“
Immer wieder wollen Politiker das Heim besuchen. Bertram stellt dann eine
Bedingung: nicht nur gucken, sondern auch was mitbringen. „Das hier ist
kein Zoo. Wie genau sie die Hilfe organisieren, ist mir egal. Hauptsache,
sie tun was.“ Die Grünen-Vorsitzende Simone Peter musste 50 Betten liefern,
Linken-Landeschef Klaus Lederer leistete Arbeitsstunden in der
Kleiderkammer.
Jede Visitenkarte, die ein Besucher aus der Politik dalässt, wird an die
große Pinnwand im Büro geheftet, gegenüber den Besucherstühlen. Auf denen
sitzt dann der Nächste, schielt auf die Sammlung, wer schon alles da war –
und was derjenige mitgebracht hat. Jeder will an diese Pinnwand, die
anderen möglichst übertrumpfen. Bertram erzählt von einer Staatssekretärin,
die ihre Visitenkarte per Post schickte, weil sie bei ihrem Besuch keine
dabeigehabt hatte.
Philipp Bertram kann mit diesen Leuten umgehen, deshalb hat man ihn
eingestellt. Er weiß, wie Verwaltungen funktionieren, aber er denkt nicht
wie sie. Wie lange wird er es noch aushalten, Flüchtlinge nachts auf der
Straße zu wissen und ein paar Stockwerke über sich ungenutzte Betten? Im
Moment sagt er: „Hier passiert viel Schönes.“
Einen 16-jährigen Syrer, der als einer der Ersten hier einzog und sich
abends oft das Heimweh nach seinen Eltern bei Bertram von der Seele redet,
nennt er „kleiner Bruder“. Und vor wenigen Tagen wurde hier wieder ein Kind
geboren. Philipp Bertram zeigt stolz ein Foto auf seinem Handy: „Unser
neues Baby“. Natürlich wird er Patenonkel.
21 Oct 2015
## AUTOREN
Johanna Roth
## TAGS
Berlin
Schwerpunkt Flucht
Unterbringung von Geflüchteten
Klaus Lederer
Kunst
Rechtsextremismus
Flüchtlinge
Schwerpunkt Flucht
ARD
Schwerpunkt Rassismus
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