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# taz.de -- Gefahren von Cybermobbing: Beleidigungen werden viral
> Ein intimes Foto kursiert über WhatsApp auf dem Schulhof. Die Verbreitung
> ist kaum zu stoppen. Die Häme ist digital, die Wunden aber sind real.
Bild: Die Anerkennung, Identität oder Zugehörigkeit treibt die virtuelle Selb…
Seit „dem Vorfall“ vor zwei Wochen hat die 16-jährige Natalie*kaum ihr
Zimmer verlassen. Sie liegt benommen im Bett, geplagt von Albträumen,
Ängsten und Selbstmordgedanken. Dabei hatte alles harmlos begonnen: Natalie
hatte mit Daniel* gechattet, geflirtet. Irgendwann bat er sie, vor der
Webcam ihr T-Shirt hochzuziehen. Nur einmal, kurz. Sie zögerte, er sagte:
„Och komm, das würde mir so gefallen.“
Gefallen wollte sie ihm, zog das T-Shirt hoch, lächelte verkrampft. Klick.
Am nächsten Tag kursiert das Foto in der Schule. Mitschüler beugen sich
über Smartphones, kichern. Eine Freundin sagt Natalie, dass sie es ist,
über die da gelacht wird. Sie glaubt es erst nicht, der Moment war doch
intim.
Das Foto verbreitet sich über WhatsApp in der ganzen Schule. Ob Daniel das
selbst so gewollt hat, ist nicht bekannt. Auch über Facebook wird Natalie
beschimpft: „Schlampe“, „Fotze“, „Bitch“, „geschieht ihr recht“…
kann man sein, lol“.
Natalie ist ein besonders schlimmer Fall von Cybermobbing. Unter diesem
Begriff wird gemeinhin die Demütigung über das Internet verstanden. Oft
anonym und meist durch das Verbreiten von kompromittierenden Fotos oder
Videos über soziale Netzwerke oder private Chatdienste. Cybermobbing kann
einen Lawineneffekt haben – einmal losgetreten, ist die Verbreitung der
Inhalte nicht zu kontrollieren.
## Haben die Eltern versagt?
Die Fälle, die sich unter dem Begriff Cybermobbing ansammeln, reichen von
heftigen Streiten über WhatsApp bis zu virtuellen Hexenjagden in sozialen
Netzwerken, wie bei Natalie. „17 Prozent der Jugendlichen, die das Internet
nutzen, berichten, dass über ihre Person schon einmal Falsches oder
Beleidigendes im Internet verbreitet wurde“, heißt es in einer aktuellen
[1][Studie vom Medienpädagogischen Forschungsverbund Südwest].
Zu Hause erzählt Natalie erst einmal nichts, sie schämt sich. Die Familie:
zwei Kinder, Akademiker-Eltern, Eigentumswohnung in Hamburg-Eimsbüttel. Als
Natalie den dritten Tag wegen Magenkrämpfen nicht in die Schule will,
bohren ihre Eltern nach. Natalie gesteht, die Eltern sind geschockt, fühlen
sich hilflos. Warum hat die Tochter das getan? Haben sie als Eltern
versagt? Und vor allem: Wie können sie Natalie schützen? Im Gegensatz zu
Schulhofmobbing kann man vor dem Cyber-Terror nicht fliehen.
Nur mit einem vorläufigen Handyverbot können die Eltern Natalie davon
abhalten, im 5-Minuten-Takt ihr Handy auf neue Gemeinheiten zu scannen.
Natalie zeigt Symptome einer „akuten Belastungsreaktion“, die im
Klinik-Jargon auch häufig den Zustand von Menschen nach einer
Vergewaltigung, einem Unfall oder dem Tod eines geliebten Menschen
beschreibt. In ihrer Not wendet sich die Familie an eine Kinder- und
Jugendpsychiatrie, dort werden Natalie und die Eltern einige Wochen
psychologisch betreut.
Ob sie ihrer Tochter keine Medienkompetenz beigebracht hätten, hören die
Eltern von anderen Eltern. Aber was soll das eigentlich sein,
Medienkompetenz?
## Unvorstellbare Verbreitung
Laut Wikipedia ist es die Fähigkeit, Medien und ihre Inhalte den eigenen
Zielen und Bedürfnissen entsprechend zu nutzen. Doch was sind die Ziele und
Bedürfnisse von Heranwachsenden? Sie befinden sich in einer Phase der Suche
– nach Anerkennung, Identität, Zugehörigkeit. Diese Suche treibt die
virtuelle Selbstdarstellung. Und oft auch das Weiterverbreiten verletzender
Inhalte.
Das Internet mit Like-Buttons, sozialen Plattformen und WhatsApp-Gruppen
ist eine Bühne, auf der junge Menschen sich einem natürlichen Bedürfnis
gemäß ausprobieren können. Wie weit die Bilder und Inhalte verbreitet
werden, wie einfach das geht, kann der Teenagergeist nur schwer
antizipieren. Und für den Widerhall in extremen Fällen wie Natalies ist die
Teenagerseele kaum ausgestattet.
Können Eltern das verhindern? Sie können Teenager dazu ermutigen, das
Internet für bestimmte Aktivitäten weniger zu nutzen als für andere. Sie
können sie dazu anhalten, die echte Welt über der virtuellen nicht zu
vernachlässigen. Sie können ihnen einbläuen, dass Privatsphäre im Internet
eine Illusion ist und Inhalte sich möglicherweise nie wieder löschen
lassen.
Aber das Vermitteln von Medienkompetenz hat seine Grenzen. Sie verlaufen
dort, wo es um sozialen Austausch geht und das Internet seine gefährliche
Eigendynamik entfaltet. Natalie hat sich in einem Moment der Unbedachtheit
ganz entblößt, andere Jugendliche werden schon mit weniger brisanten Fotos
oder ohne ersichtlichen Anlass zur Zielscheibe.
## Nicht vorhersehbar
Virtuell gehen Beleidigungen schneller von der Hand, sind aber zugleich
allgegenwärtiger. Zudem lädt diese anonyme und barrierefreie Spielwiese zu
einem ungezügelteren Umgangston ein. So sehr, wie sich ein
Facebook-Kommentar-Thread zur Flüchtlingspolitik zu einem viralen Shitstorm
entwickeln kann, so kann das auch ein kommentiertes Foto von
Teenagerbrüsten über WhatsApp.
Virale Dynamiken entbehren häufig jeder Vorhersehbarkeit. Sich als Teenager
im Internet daher stets auf eine Weise zu verhalten, die ein Cybermobbing
ausschließt, ist unmöglich.
Natürlich ist das Internet kein rechtsfreier Raum. Was offline ein
Strafbestand ist (Verleumdung, Nachstellung, Beleidigung), ist es auch
online. Zudem wurde im Januar 2015 der Gesetzesparagraf, der die
„Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereiches“ strafrechtlich regelt,
verschärft. So ist seitdem zum Beispiel auch das „Zurschaustellen hilfloser
Personen“, wie Betrunkener, strafbar.
Aber eine Straftat im Internet bleibt schwer zu ahnden, Nutzungsbedingungen
und „Netiquetten“ schwer sicherzustellen. Deshalb braucht es ein neues
Verständnis für den virtuellen Umgang miteinander.
## Medienkompetenz vorleben
Das Vermitteln von Medienkompetenz ist nie abgeschlossen. Es führt kein Weg
drum herum, dass Erwachsene immer wieder mit Jugendlichen über den dem Netz
immanenten Zwiespalt sprechen: Um andere virtuell zu verurteilen und zu
verletzen, bedarf es nur eines Mausklicks. Doch die Wunden und die Scham
der Beschimpften sind real.
Dabei ist dieses Gespräch mehr als eine Erziehungsaufgabe von Eltern und
Lehrern. Es ist ein gemeinsamer Lernprozess und ein
gesamtgesellschaftlicher Lehrauftrag. Das beinhaltet, dass Medienkompetenz
nicht nur vorgebetet, sondern auch vorgelebt wird. Auf jugendaffinen
Webseiten und Kommunikationsplattformen muss ein verbales Umfeld geschaffen
werden, das Orientierung gibt darüber, was in Ordnung ist und was nicht.
Die Jugendzeitschrift Bravo brachte vor einigen Wochen ein anschauliches
Anti-Beispiel. Bei Dr. Sommer war eine [2][„Brüste-Galerie“ einzusehen] –
etwa zehn Bilder von Teenie-Brüsten unterschiedlicher Größe und Form. Für
orientierungssuchende Mädchen kann das ein hilfreicher Beitrag in gewohnter
Bravo-Manier sein. Allerdings war jedes der Brustfotos versehen mit einem
Bewertungsbutton: „Fail“, „Bitch“, „OMG“.
## Bewertung per Mausklick
Die Betrachter konnten abstimmen, wie ihnen die gezeigten Brüste gefallen.
Abgesehen davon, welchen Effekt das Lesen von „286x Fail und 67x Bitch“ auf
ein 16-jähriges, ohnehin von Schönheitsnormen geplagtes Mädchen hat, stellt
sich die Frage: Was sollen solche Buttons 16-jährigen Buttondrückern
vermitteln?
Dass es sich dabei um angebrachte Kategorien für die Beurteilung von
Menschen oder Körperteilen handelt? Dass es okay ist, Menschen auf diese
Art per Mausklick zu bewerten, aus der Anonymität seines Kinderzimmers mit
Chipskrümeln auf dem Schoß?
Eine solche Bewertungsleiste suggeriert Jugendlichen einen fragwürdigen
Verhaltenskodex. Er fördert „trolliges“ Verhalten und leistet dem Trugbild
der Unverbindlichkeit einen gewaltigen Vorschub. Immerhin, im Falle der
Brustbilder haben die Internetnutzer ihr volles Potenzial entfaltet: Nach
einem Shitstorm hat die Bravo-Redaktion die Bewertungsleiste entfernt.
* Die Namen wurden von der Redaktion geändert.
26 Oct 2015
## LINKS
[1] http://www.mpfs.de/fileadmin/JIM-pdf14/JIM-Studie_2014.pdf
[2] http://www.bravo.de/dr-sommer/die-neue-brueste-galerie-174980.html
## AUTOREN
Saskia Pfähler
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