# taz.de -- Boris Palmer zu Flüchtlingen: „Können Asylstandards nicht halte… | |
> Tübingens Oberbürgermeister sieht die Grünen vor einem Realitätstest. Der | |
> verstärkte Zuzug von Asylsuchenden überfordere ganz Europa. | |
Bild: PALMER: „Wir werden zu einer pragmatischen Sicht kommen müssen.“ Fl�… | |
taz: Herr Palmer, „Politisch Verfolgte genießen Asyl“ – darauf haben sich | |
die Grünen immer bezogen. Gilt das noch angesichts einer Million | |
Flüchtlinge? | |
Boris Palmer: Ja, aber wenn dieses Jahr wirklich zwanzig mal mehr | |
Flüchtlinge zu uns kommen als noch 2010, sind wir gezwungen, zu | |
unterscheiden zwischen denen, die vor Krieg fliehen und um ihr Leben | |
fürchten, und denen, die bei uns ein besseres Leben suchen. Wir können die | |
Aslystandards nicht halten. | |
Sie sind grüner OB in Tübingen. Wie ist denn die Situation in Ihrer Stadt? | |
Die Kreissporthalle ist bereits mit Flüchtlingen belegt. Wir sind hektisch | |
dabei, Unterkünfte zu requirieren, also Hallen umzunutzen und mit Heizungen | |
auszustatten. Ich bin noch nicht sicher, ob es uns gelingt, im Winter ohne | |
Zelte auszukommen. Deswegen habe ich auch schon mal vorsorglich auf das | |
Polizeigesetz hingewiesen, dass es möglich ist, leer stehende Häuser zu | |
beschlagnahmen. | |
Der Bundesinnenminister hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, der für | |
Asylsuchende große Härten bedeuten würde. Gutscheine, Residenzpflicht, vor | |
allem mehr so genannte sichere Herkunftsländer, in die die Menschen | |
abgeschoben werden sollen. Schon im Oktober soll das Gesetz durchs | |
Parlament und den Bundesrat gehen. Die Grünen sind im Bundesrat in einer | |
mächtigen Position. Wie sollten sie die nutzen? | |
Verantwortlich. Auf keinen Fall dürfen wir blockieren. Deutschland braucht | |
jetzt passende Lösungen, um mit dieser riesigen Zahl von Flüchtlingen | |
umzugehen. Wir erleben gerade, dass rings um uns die Länder Europas völlig | |
überfordert sind. Das hat auch damit zu tun, dass so viele Menschen von | |
Deutschland motiviert wurden, die Reise hierher anzutreten. Jetzt müssen | |
wir uns aber eingestehen, dass auch die deutsche Gesellschaft an eine | |
Belastungsgrenze kommt. Deshalb brauchen wir schnellere Verfahren, den | |
Abbau falscher Anreize und eine klare Priorität für Kriegsflüchtlinge. | |
Mehr sichere Herkunftsländer – ja oder nein? | |
Eindeutig ja. Und auch europaweit. Wir können es uns nicht leisten, vierzig | |
Prozent der Asylplätze mit Menschen vom Balkan zu belegen, wenn | |
Hunderttausende Kriegsflüchtlinge zu uns kommen. | |
Wollen Sie dafür verantwortlich sein, dass künftig Romafamilien abgeschoben | |
werden? | |
Für die Roma kann man, wenn Verfolgung vorliegt, durchaus eine Lösung über | |
Kontingente finden. Aber klar muss auch sein: Abschiebungen zu verhindern – | |
was lange grüne Politik gewesen ist – lässt sich in der jetzigen Situation | |
nicht mehr durchhalten. Wenn Abschiebungen nicht durchgeführt werden, ist | |
das ein Zeichen an die Menschen aus diesen Ländern, dass es sich weiter | |
lohnt, zu uns zu kommen. | |
Gesundheitsminister Hermann Gröhe stellt in Aussicht, die von den Grünen | |
geforderte Gesundheitskarte nun doch einzuführen. Ist das ein Goodie für | |
die Grünen vor dem Flüchtlingsgipfel am Donnerstag? | |
Ja. Wir sollten uns darauf konzentrieren, möglichst viel für die | |
Integration der Menschen zu erreichen, die bleiben werden. Dazu gehört | |
natürlich die Gesundheitsversorgung. Außerdem müssen diese Leute sofort | |
anfangen können zu arbeiten, ohne das Damoklesschwert einer Abschiebung | |
über dem Kopf. | |
Also weniger soziale Härten im Tausch gegen die Zustimmung zu sicheren | |
Herkunftsländern – sieht so der Deal zwischen Bund und Ländern aus? | |
Ich glaube nicht, dass es so einfach sein wird. Weniger soziale Härten | |
könnte auch bedeuten, noch mehr Anreize zu schaffen, nach Deutschland zu | |
kommen. Wenn es um die Rückkehr zu Sachleistungen geht, wird das jene | |
betreffen müssen, die keine Bleibeperspektive haben. Für viele Grüne wäre | |
das in der Vergangenheit eine soziale Härte gewesen. Aber das scheint mir | |
jetzt notwendig. | |
Wo ist eigentlich die Schmerzgrenze bei den Grünen? | |
Die Schmerzgrenze der ganzen deutschen Gesellschaft wird sich bald zeigen. | |
Denn es kommen eben nicht nur Ingenieure und Akademiker zu uns, sondern | |
weitaus mehr Analphabeten. Wir werden einen harten Konkurrenzkampf erleben | |
um Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen, aber auch um Wohnraum mit dem | |
unteren Fünftel der jetzigen Gesellschaft. | |
Wie nennen Sie das? Pragmatismus zugunsten von Idealismus? | |
Ich beziehe mich da auf den Soziologen Heinz Bude: Wir sind derzeit in der | |
Phase des Flüchtlings-Idealismus, aber wir werden rasch feststellen, dass | |
der nicht trägt. Denn er überfordert ganz Europa. Wir werden zu einer | |
pragmatischen Sicht kommen müssen. Das ist für uns Grüne hart, denn das | |
bedeutet, Einschränkungen von Flüchtlingsrechten hinnehmen zu müssen. | |
Aktuell erleben wir, wie die Zeit alte Überzeugungen hinwegfegt, | |
konservative Vorstellungen vom Staatsvolk genau so wie grüne | |
Mitmenschlichkeitsideale. | |
Die Grünen als Mehrheitsbeschaffer restriktiver Flüchtlingspolitik, und | |
zwar in Zeiten zunehmender Fremdenfeindlichkeit. Wie wollen Sie das Ihrer | |
Basis vermitteln? | |
Wir Grünen stehen wieder einmal vor einem Realitätstest. Der wird mit | |
Sicherheit hart. Aber ich bin mir sicher, dass die Menschen uns andernfalls | |
fragen werden, welche Lösungen wir für die Integration all dieser Menschen | |
anzubieten haben. Und wenn da unsere Antwort ist: Wir schaffen die | |
Bedingungen dafür, dass noch mehr zu uns kommen, dann wird uns das keiner | |
abnehmen. Derzeit sind über 70 Prozent der Flüchtlinge junge Männer, die | |
ganz andere Vorstellungen von der Rolle der Frauen, der Religion, | |
Meinungsfreiheit, Homosexualität oder Umweltschutz in der Gesellschaft | |
haben als wir Grüne. Machen wir uns nichts vor: Die Aufgabe ist riesig. Es | |
gibt eine objektive Integrations- und Belastungsgrenze. Dass wir die bisher | |
abstrakt ignorieren konnten, lag nur daran, dass nicht so viele Menschen | |
gekommen sind. | |
20 Sep 2015 | |
## AUTOREN | |
Anja Maier | |
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