| # taz.de -- Geestland: Datenschutz geht anders: Der gläserne Flüchtling | |
| > Die niedersächsische Stadt Geestland will eine Karte für Flüchtlinge | |
| > einführen, auf der von den Gesundheitsdaten bis zu den Asylakten alles | |
| > gespeichert werden soll. | |
| Bild: Recht auf Datenschutz? Geflüchteter bei ärztlicher Untersuchung | |
| HAMBURG taz | Auch nördlich von Bremerhaven will man einmal Vorreiter sein: | |
| Als vor knapp drei Wochen der Bund ankündigte, eine „Flüchtlingskarte“ | |
| einführen zu wollen, war man in der Stadt Geestland schon weiter. Eine | |
| „Refugee Identification Card“ soll dort jedem Flüchtling ausgehändigt | |
| werden und Gesundheitsdaten und behördlichen Akten zusammenführen: Vom | |
| Krankenschein über Arztbriefe, Schuhgröße, Fingerabdrücke bis zu den | |
| Unterlagen für das Asylverfahren. | |
| Während Bürgermeister und privater Anbieter von einer „Hilfeleistung“ und | |
| „praktischen Lösung“ sprechen, schlagen die Flüchtlingsräte Alarm: Sie | |
| befürchten die Schaffung eines „gläsernen Flüchtlings“. | |
| „Es werden keine Daten gespeichert, die nicht heute auch schon gespeichert | |
| werden“, sagt Geestlands Bürgermeister Thomas Krüger (SPD). Nur die | |
| Schnelligkeit der Verarbeitung ändere sich. Datenschutz sei von Anfang an | |
| bedacht worden. Aber: „Man muss sich entscheiden, was man will und | |
| abwägen“, so Krüger. Die Situation, dass so viele Flüchtlinge nach | |
| Deutschland kämen, hätte es so noch nie gegeben. „Da muss man auch | |
| Kompromisse eingehen.“ Man solle nicht immer gleich das Negative | |
| unterstellen, die Karte solle auch eine schnellere soziale Teilhabe | |
| ermöglichen. | |
| Entwickelt wurde die Idee mit dem Buchholzer Unternehmen „Ordermed“, das | |
| bereits Erfahrungen mit Datenlösungen für den medizinischen Bereich hat. | |
| Zunächst sei es um eine Kommunikationshilfe und Lösung für die | |
| gesundheitliche Versorgung von Flüchtlingen gegangen. Daraus habe sich die | |
| „Refugee Idendification Card“ entwickelt: „Im Grunde ist es das System, | |
| dass in ganz Deutschland die Probleme lösen könnte.“ | |
| Bislang müssen in den meisten Bundesländern Flüchtlinge vor einem | |
| Arztbesuch beim Amt eine Kostenübernahme beantragen. Nur die Behandlungen | |
| akuter Krankheiten werden bezahlt. | |
| In Bremen, Hamburg und, seit Kurzem, auch Nordrhein-Westfalen wurde dies | |
| anders gehandhabt: Bei dem sogenannten „Bremer Modell“ erhielten | |
| Flüchtlinge eine Krankenkassenkarte, sie gingen wie alle anderen zum Arzt, | |
| die AOK bekam für die Verwaltung der Abrechnung eine Pauschale. | |
| Mit der „Refugee Identification Card“ will Geestland nun mehr. Damit | |
| verbunden sei auch eine „elektronische Flüchtlings-Akte“. Erstmal sei ein | |
| „digitaler Datenaustausch zwischen allen staatlichen Ebenen sowie allen | |
| Akteuren im Gesundheitswesen möglich“, heißt es auf der Website. Drei bis | |
| fünf Euro soll die Karte pro Stück kosten. Mit einem Pin sollen Behörden, | |
| Ärzte und der Flüchtling selbst verschiedene Bereiche in einem | |
| Internet-Portal erreichen können. Die Karten für Geestlands 350 Flüchtlinge | |
| werden derzeit bereits produziert und sollen noch in diesen Jahr | |
| ausgehändigt werden. | |
| Auf der Website wirbt das Unternehmen auch damit, dass die Karte helfe, das | |
| Asylverfahren zu beschleunigen. Ein Versprechen, bei dem Marc Millies vom | |
| Bremer Flüchtlingsrat von einer „Täuschung“ spricht: Nicht die | |
| Verfügbarkeit von Dokumenten, sondern die Überlastung der Behörde | |
| verlangsame das Verfahren. Er verweist auf den repressiven Charakter der | |
| deutschen Gesetzgebung gegenüber Flüchtlingen. Die Krankenkassenkarte in | |
| Bremen sei auch eingeführt worden, um Stigmatisierungen zu vermeiden: | |
| „Flüchtlinge sollten gerade mit der gleichen Karte zum Arzt gehen wie ihre | |
| Nachbarn“, so Millies. | |
| „Wir haben einen Haufen an Fragen“, sagte auch Kai Weber vom | |
| niedersächsischen Flüchtlingsrat. „Es ist eine Verletzung des | |
| Datenschutzes, wenn ein privater Anbieter massenhaft Daten sammelt.“ Wie | |
| Millies verweist er auf das funktionierende Bremer Modell. „Bei Deutschen | |
| werden auch keine Daten zusammengefasst“, sagt Weber. „Ich frage mich, | |
| inwiefern Datenschutz überhaupt berücksichtigt wurde“. | |
| Der Flüchtlingsrat habe deshalb die niedersächsische | |
| Landesdatenschutzbeauftragte um eine Prüfung gebeten. Deren Sprecher | |
| Michael Knaps erklärte, die Karte werde derzeit bewertet. Aber: „Wir sind | |
| eher skeptisch.“ Probleme sieht er etwa bei der Frage, ob die | |
| Datenspeicherung freiwillig verlaufe: „Es setzt immer eine informierte | |
| Einwilligung voraus“, so Knaps. „Bei Flüchtlingen klappt das vielleicht | |
| nicht immer“, so seine Einschätzung. | |
| Grundsätzlich müsse technisch sichergestellt sein, dass etwa das | |
| Einwohnermeldeamt nicht auf die Gesundheitsdaten zugreifen könne. „Das wäre | |
| unrechtmäßig“, so Knaps. „Gesundheitsdaten gehören zu den sensibelsten | |
| Daten überhaupt.“ | |
| 19 Nov 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Jean-Philipp Baeck | |
| ## TAGS | |
| Gesundheit | |
| Geflüchtete | |
| Asyl | |
| Datenschutzabkommen | |
| Flüchtlinge | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| Grüne | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Ankunftszentren für Flüchtlinge: Kurzer Prozess für Asylsuchende | |
| Die Verfahren sollen zukünftig innerhalb von 48 Stunden abgewickelt werden. | |
| Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zentralisiert deshalb die | |
| Vorgänge. | |
| Neue Grundverordnung zum Datenschutz: Die Jagd nach dem Datenschatz | |
| Nach langen Verhandlungen einigt sich die EU auf neue Datenschutzregeln. | |
| Doch vorbei ist die Lobbyschlacht noch lange nicht. | |
| Unterbringung in Niedersachsen: Kein festes Dach für Flüchtlinge | |
| Niemand soll bei Schnee und Eis in Zelten leben müssen, hatte | |
| Niedersachsens Landesregierung versichert. Doch das Versprechen ist nicht | |
| zu halten. | |
| Medizinische Versorgung der Flüchtlinge: Union streitet über Gesundheitskarte | |
| Die Regierung will Asylbewerbern den Zugang zum Arzt erleichtern und die | |
| Kommunen entlasten. Große Teile der CDU/CSU sind dagegen. | |
| Boris Palmer zu Flüchtlingen: „Können Asylstandards nicht halten“ | |
| Tübingens Oberbürgermeister sieht die Grünen vor einem Realitätstest. Der | |
| verstärkte Zuzug von Asylsuchenden überfordere ganz Europa. |