# taz.de -- Debatte TTIP und Flüchtlinge: Freihandel zwingt zur Flucht | |
> Wer künftige Flüchtlingskrisen vermeiden will, muss TTIP verhindern. | |
> Stattdessen benötigt die Welt eine neue Form des Protektionismus. | |
Bild: Nicht jede Flucht hat ökonomische Gründe – aber viele Menschen verlas… | |
Die Flüchtlingskrise und das Freihandelsabkommen TTIP scheinen nichts | |
miteinander zu tun zu haben. Aber das ist nur der erste Blick. Der | |
Freihandel lässt die Schwellen- und Entwicklungsländer verarmen und kostet | |
manchmal auch Leben. | |
Natürlich sind die Zusammenhänge nicht so platt, dass jede Flucht | |
ökonomische Gründe hätte. Die Syrer wollen Assad und dem „Islamischen | |
Staat“ entkommen, sie fliehen vor Fassbomben und Granatsplittern. Aber es | |
sind längst nicht nur Kriegsflüchtlinge nach Europa unterwegs. Viele | |
Menschen verlassen ihr Land, weil sie keine Perspektive sehen. | |
Seitdem fast eine Million Flüchtlinge die deutsche Grenze erreicht haben, | |
ist es modern, ihnen zu versprechen, „ihre Lebenschancen in der Heimat zu | |
verbessern“ (Merkel). Diese Idee ist richtig, bleibt aber vage. Daher zwei | |
Vorschläge: Die Freihandelsabkommen mit ärmeren Ländern werden ausgesetzt – | |
und Steueroasen sofort geschlossen. | |
Um zunächst beim Freihandel zu bleiben: TTIP berührt die Schwellen- und | |
Entwicklungsländer zwar nicht direkt, weil es als Abkommen zwischen den USA | |
und Europa konzipiert ist. Doch die Ambitionen reichen weiter. TTIP soll | |
„weltweite Maßstäbe“ setzen, wie Wirtschaftsminister Gabriel gern betont. | |
Für den Handel zwischen den USA und Europa würde nämlich gar kein | |
Freihandelsabkommen benötigt – der Güteraustausch funktioniert längst. | |
Jeden Tag schippern Waren im Wert von 1,8 Milliarden Dollar über den | |
Atlantik. | |
An TTIP wird nur so verbissen gearbeitet, damit es zu einem ideologischen | |
Denkmal für den Freihandel wird. Denn der Widerstand gegen den | |
bedingungslosen Warenverkehr wächst in den Entwicklungs- und | |
Schwellenländern – zu Recht. | |
Dazu reicht ein Blick in die Geschichte: Die heutigen Industrieländer sind | |
nicht durch Freihandel reich geworden, sondern durch Protektionismus. | |
Besonders hoch waren die Zölle in den USA, die im Durchschnitt zwischen 35 | |
und 50 Prozent lagen, und zwar von 1820 bis zum Zweiten Weltkrieg. Erst ab | |
1950 sanken die amerikanischen Zölle kontinuierlich. | |
Es ist also Geschichtsklitterung, wenn sich die USA heute als die obersten | |
Advokaten des Freihandels aufspielen. Die Amerikaner bauten ihre Zölle erst | |
ab, als sie die ökonomische Supermacht waren. Dieses Muster lässt sich | |
übrigens stets beobachten: Zölle werden erst abgeschafft, wenn die eigene | |
Industrie zu den Weltmarktführern gehört und die Konkurrenz nicht mehr | |
fürchten muss. | |
## Entwicklungsländer in der Falle | |
Doch die Entwicklungsländer sollen ohne Schutzzölle auskommen. Dabei ist es | |
für die armen Staaten sowieso schwer, eine eigene Industrie aufzubauen. | |
Denn durch den technologischen Fortschritt steigt die Mindestgröße ständig, | |
die eine Fabrik haben muss. | |
Ein Beispiel: Selbst große Länder wie Argentinien sind zu klein, um eine | |
Autoindustrie zu starten. Die Pkw-Produktion ist so teuer, dass sie sich | |
nur lohnt, wenn ein riesiger interner Markt vorhanden ist. Die Chinesen | |
sind mit ihrer Bevölkerung von etwa 1,3 Milliarden Menschen im Vorteil. Da | |
ist es noch möglich, Importe zu beschränken, Devisen zu bewirtschaften und | |
hinter hohen Zollschranken eine eigene Industrie hochzuziehen. | |
Kleinere Entwicklungsländer sitzen in der Falle. Sie sind auf den | |
Freihandel angewiesen, um für ihre Produkte einen Markt zu finden, der | |
hinreichend groß ist. Gleichzeitig begünstigt aber genau dieser Freihandel | |
die etablierten Industrieländer, die technologisch überlegen sind. | |
Der südkoreanische Ökonom Ha-Joon Chang hat vorgerechnet, dass sich die | |
technologische Kluft zwischen reichen Staaten wie den USA oder Deutschland | |
und den ärmsten Ländern wie Äthiopien oder Tansania auf etwa 60 zu 1 | |
ausgeweitet hat. Selbst Schwellenländer wie Brasilien hinken 5 zu 1 | |
hinterher, wenn es um die Produktivität ihrer Wirtschaft geht. | |
Dies bedeutet: Wenn sich ein Land wie Brasilien gegen die Übermacht der | |
Industrieländer wehren will, reichen Zölle von 40 Prozent nicht, wie sie | |
die USA im 19. Jahrhundert erhoben haben – sondern es müssten Zölle von | |
weit über 100 Prozent sein. Doch stattdessen werden die Entwicklungs- und | |
Schwellenländer gezwungen, Freihandelsabkommen und WTO-Verträge | |
abzuschließen, die sinkende Zölle vorsehen. | |
So produziert man Verarmung – und Flüchtlinge. Die internationalen Abkommen | |
müssten den Entwicklungsländern gestatten, ihre Produkte zollfrei zu | |
exportieren. Gleichzeitig dürften sie jeden Importzoll erheben, den sie für | |
sinnvoll halten. Nur dann haben die armen Länder eine Chance, ihre jungen | |
Branchen gegen die Konkurrenz der Industrieländer zu schützen. | |
## Strafzölle für die Schweiz | |
Selbst bei optimalen Handelsabkommen bliebe aber noch ein Problem: Viele | |
Potentaten in den Entwicklungsländern haben derzeit kein Interesse, in | |
ihrer Heimat zu investieren, sondern verstecken ihre Milliarden lieber in | |
einer Steueroase. Besonders wichtig ist die Schweiz, die weltweit die | |
Verteilung der Schwarzgelder organisiert. | |
Freiwillig werden die Eidgenossen zwar niemals ihre Geheimkonten schließen, | |
aber an kreativen Lösungen fehlt es nicht. So hat der französische Ökonom | |
Gabriel Zucman gefordert, das Land mit Strafzöllen zu belegen. Die EU | |
sollte Einfuhren aus der Schweiz mit 30 Prozent belasten, was die | |
Eidgenossen empfindlich treffen würde. Denn das geparkte Schwarzgeld | |
steuert nur 3 Prozent zur Schweizer Wirtschaftsleistung bei; viel wichtiger | |
ist der Export von Maschinen, Uhren und Chemikalien. Rechtlich wäre es kein | |
Problem: Die Welthandelsorganisation (WTO) erlaubt Strafzölle, wenn ein | |
Land indirekte Subventionen gewährt – und dazu zählen Sonderkonditionen für | |
Steuersünder. | |
Die Welt benötigt eine neue Form des Protektionismus: Entwicklungsländer | |
dürfen Importzölle erheben – und werden gleichzeitig mit Strafzöllen vor | |
den Schweizer Steuerdieben geschützt. Aber derartige Vorschläge können sich | |
erst durchsetzen, wenn TTIP verhindert und der Freihandel keine dominante | |
Ideologie mehr ist. | |
26 Sep 2015 | |
## AUTOREN | |
Ulrike Herrmann | |
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