# taz.de -- Zentrum für politische Schönheit: Masturbation des Grauens | |
> Am Samstag feierte das erste Bühnenstück des Zentrums für Politische | |
> Schönheit Premiere: eine moralische Prügelorgie, die ihre Zuschauer klein | |
> macht. | |
Bild: Asche im Gesicht ist Kennzeichen des Zentrums für politische Schönheit,… | |
Allzu viele kommen uns schon heute vor wie Tote, wie Leute, die schon | |
hinter sich haben, was sie vor sich haben, so wenig tun sie dagegen. | |
(Bertolt Brecht, „Rede für den Frieden“) | |
Der Platz, an dem der Zuschauer sitzt, ist eine einzige Verdammnis. Der | |
Zuschauer sitzt ja auch sonst immer nur so da, aber diesmal ist er wirklich | |
gekommen und hat sich niedergelassen, genauso blöd, wie es sich anhört: in | |
einem gepolsterten Theatersessel. Er ist nicht allein, er ist ja quasi das | |
ganze Volk. Und er ist, nur damit das klar ist, eine jämmerliche Gestalt, | |
ein schuldiges Wesen, verachtenswert und zu nichts nütze, ihm ist einfach | |
alles egal. Der Zuschauer macht keinen Unterschied. | |
Wahrscheinlich, so muss sich hier irgendjemand gedacht haben, bevor der | |
Abend begann, sollte man ihn dafür unablässig verprügeln, strafen und, wenn | |
irgendwie möglich, dann auch demütigen. Der Zuschauer und die Zuschauerin | |
sind die schlimmsten Schuldigen der Zeitgeschichte. Philipp Ruch weiß das | |
schon seit Langem und in Dortmund trifft er auf dieses Arschloch. | |
Das Arschloch zahlt sogar Eintritt. | |
Philipp Ruch ist ein Philosoph und Dramaturg aus Berlin, und wenn es sich | |
in den vergangenen Jahren ergeben hat, dann hat der ebenso intelligente wie | |
sympathische, groß gewachsene Mann mit den Adidas-Turnschuhen in | |
Deutschland die ganz große Schule der Inszenierung gewählt: Zum 25. | |
Jahrestag des Mauerfalls klaute er am Bundestag Gedenkkreuze, um statt an | |
die Mauertoten an die Flüchtlingstoten von heute zu erinnern. Per Bus | |
brachten er und sein Team vom sogenannten Zentrum für Politische Schönheit | |
Freiwillige zu Europas Außengrenzen, um diese mit Bolzenschneidern zu | |
zerstören. Zuletzt ließ Ruch in Italien zwei im Mittelmeer ums Leben | |
gekommene Flüchtlinge exhumieren und beerdigte sie unter den Augen der | |
Öffentlichkeit in Berlin. Große Inszenierungen, getragen von politischer | |
Kraft. | |
„Bei uns“, sagte Ruch Anfang August, „laufen massenhaft Politiker mit | |
zweifelhaften Überzeugungen ins Werk, die nicht mal bei ihrem Abgang die | |
Scheinwerfer entdecken.“ Die Öffentlichkeit, sollte das heißen, ist seine | |
Bühne. Bislang reichte das auch und tat gut. | |
An diesem Samstagabend in Dortmund trifft Ruch allerdings auf seinen | |
Zuschauer. Ruch hat tatsächlich ein klassisches Bühnenstück inszeniert. Kay | |
Voges, der Intendant des Dortmunder Schauspiels, will im Ruhrgebiet einen | |
Aufbruch wagen, er will sein Haus neu positionieren: als bundesweit | |
sichtbare Werkstatt und Schlachtfeld der politischen Auseinandersetzung. Er | |
lädt dazu politische Aktivisten ein, Grenzgänger, und so feiert an diesem | |
Samstag das erste Bühnenstück des Zentrums für Politische Schönheit seine | |
Uraufführung. Es heißt „2099“ und ist, freundlich gesagt, eine Anklage, | |
aber mehr wohl eine Zumutung oder eine Enttäuschung, zumindest eine | |
rüttelnde moralische Prügelorgie der Sonderklasse, die wenig bis gar nichts | |
von ihrem Zuschauer, den sie doch so anklagt, wissen will. | |
Und doch wird nichts mich davon überzeugen, dass es aussichtslos ist, der | |
Vernunft gegen ihre Feinde beizustehen. | |
(Bertolt Brecht, „Rede für den Frieden“) | |
Vier Männer also. (War ja klar.) Sie stehen in schwarzem Anzug, weißem Hemd | |
und schwarzer Krawatte auf dieser Bühne. Sie sehen aus wie die „Men in | |
Black“ aus diesem Hollywoodfilm und sie sollen, laut Skript, angeblich | |
Philosophen sein, aus der Zeit gefallen, denn es sind Zeitreisende aus dem | |
Jahr 2099, und hier wird für einen Moment ein einfacher, schon geübter | |
Gedanke interessant: Diese Männer also kennen die Geschichte. Sie kennen | |
den ersten Holocaust, aber vor allem: Sie kennen auch die vier noch | |
folgenden Holocausts des 21. Jahrhunderts. Und nun stehen sie schreiend und | |
verzweifelt auf der Bühne des Dortmunder Theaters, zeigen Bewegtbilder | |
zerfledderter Leichen, füllen eine Fassbombe mit Nägeln, Phosphor und einem | |
Zünder und versuchen, ihr Versagerpublikum zu impfen. | |
Begleiten lassen sie sich von einer Dauerschleife apokalyptischer Musik, | |
wie sie wahlweise an den Hollywoodfilm „Titanic“ oder die Begleitmelodien | |
jener Dokumentationen erinnert, die nachts bei N24 laufen. Natürlich, all | |
dies geschieht, um jene Zuschauer des Jahres 2015 aufzurütteln, den | |
historischen Unterschied zu machen. Was würden sie tun? Wen würden sie | |
ermorden, wenn Sie einen Holocaust verhindern könnten? Oder verteilen sie | |
noch immer nur Kleidung an ankommende Flüchtlinge? Etwas Besseres fällt | |
ihnen wirklich nicht ein? | |
Das ist die einfache und in Momenten auch reizvoll gestaltete Idee | |
(bühnenbildnerisch schön, schauspielerisch weitgehend stark) und es mangelt | |
in den folgenden 90 Minuten nicht an historischen und intellektuellen | |
Referenzen (Gavrilo Princip, Pension Schöller, Albert Speer). | |
Und doch: Mehr als eine Masturbation des Grauens, eine wild gewordene, | |
apokalyptische Collage des Unheils (Ruanda, Bosnien, Syrien) wird es dann | |
kaum; häufig geführt in eindimensionalen Monologen, die nur den einfachen | |
Imperativ an das Publikum kennen (“Macht das Streben nach Humanität zum | |
Zentrum eurer Politik!“). | |
Denn es gibt ja, so erfährt dann der Zuschauer, nur drei moralische | |
Kategorien: den Täter, das Opfer – und ihn selbst, den Zuschauer. Das ist | |
der, der blöde am Rand steht und nicht eingreift; der, der alles erträgt | |
und nicht interveniert; der, der selbst gegen diese Theatervorstellung | |
nicht aufbegehrt. Als einmal eine Zuschauerin wirklich aufsteht, wie es von | |
ihr gefordert wird, weigert sie sich, immerhin, den Hitlergruß zu zeigen. | |
Ein wenig später hat es eine ältere Dame, Zuschauerin, mit feinem weißem | |
Haar tatsächlich auf die Bühne geschafft. Sie trägt einen roten | |
Strickpullover und einen Seidenschal; und dann lässt sie sich darauf ein, | |
zur Akteurin zu werden, zu reden. Sie steht nun auf der Bühne, es ist ja | |
einen Versuch vielleicht wert. Und doch will es nicht gelingen, dass jetzt | |
ein authentischer Moment entsteht. Die Dame hat im Skript ihren Platz. Sie | |
soll nun also etwas geloben, sie tut es, dann geht sie ab. Es ist eine | |
handwerkliche Frage: Das Zentrum macht den Zuschauer, den es anklagt und | |
groß sehen will, klein. | |
Lasst uns das tausendmal Gesagte immer wieder sagen, damit es nicht einmal | |
zu wenig gesagt wurde. | |
(Bertolt Brecht, „Rede für den Frieden“) | |
Marktschreierisch und eigentlich unter ihrem Wert hatten sich das Zentrum | |
und das Theater Dortmund zuvor schon mit einem recht billigen Trick in | |
Szene gesetzt, als sie in der letzten Woche verlautbarten, nach der | |
Premiere des Stücks das Jaguarbaby Raja im Dortmunder Zoo erschießen zu | |
wollen. Dann bekannte sich das Zentrum schließlich dazu, angeblich auch | |
zwei Zwergagutis entführt zu haben, die im August aus dem Dortmunder Zoo | |
verschwanden. Noch nicht genug mit Tieren? In der Pressemappe zum Stück lag | |
ergänzend noch ein Text zu der Frage bei, was wäre, wenn Syrer Wale wären. | |
Und so zeigt sich, dass hier in Dortmund eines fehlt, das beim Zentrum | |
ansonsten zum Wesensmerkmal seiner Inszenierungen gehörte: die Präzision. | |
Es ist durchaus möglich, dass es im Jahr 2099 vier erschrockene Philosophen | |
gibt, die nur noch schreien können. Aber wenn sie dann zurückreisen in ein | |
Theater, sagen wir nach Dortmund, ins Jahr 2015, dann sei ihnen gewünscht, | |
dass bis dahin, nun wirklich, die Theaterpädagogik eine wichtigere Stellung | |
eingenommen hat. Es könnte den ganzen Unterschied machen. | |
20 Sep 2015 | |
## AUTOREN | |
Martin Kaul | |
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