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# taz.de -- Soziologe über Brasiliens Ökonomie: „Genossenschaften mit Verr�…
> Seit 12 Jahren ist Paul Singer in Brasilien Staatssekretär für
> Solidarische Ökonomie. Nun bedroht der Sparkurs der Präsidentin das
> erfolgreiche Projekt, sagt er.
Bild: Kürzen. Kürzen. Und kürzen. Präsidentin Dilma Rousseffs Kurs gefährd…
taz.zum wandel: Herr Singer, 1996 haben Sie zum ersten Mal den Begriff
„Solidarische Ökonomie” verwendet. Wie kam es dazu?
Paul Singer: Darauf gebracht hat mich Aloízio Mercandante, heute
Präsidialamtsminister in Brasilia. Ich hab ihn spontan übernommen, wir
wollten den Kapitalismus durch die Solidarität der Betroffenen überwinden.
Auslöser war die große Krise der Linken 1991, als die Sowjetunion wieder
kapitalistisch wurde. Viele in der Arbeiterpartei PT meinten: „Der
Sozialismus ist vorbei!“ Aber ich sagte: Ach wo, jetzt brauchen wir den
demokratischen Sozialismus, von unten und freiheitlich. 1996 war für uns
klar, dass die Solidarische Ökonomie der Weg ist.
Aber in Brasilien gab es das schon länger …
Genau, in den 1980ern hat die Caritas die Solidarische Ökonomie
hergebracht. Das war die Zeit, als ganz Lateinamerika nach der
Verfünffachung des Erdölpreises in die Finanzkrise taumelte. In Brasilien
herrschte noch das Militärregime (1964 bis 1985), und dann haben die
Militärs dieselbe Haushaltspolitik gemacht wie Präsidentin Dilma Rousseff
heute, also radikale Kürzungen, ein Horror. Allein in der brasilianischen
Industrie gingen sechs Millionen Arbeitsplätze verloren.
Und wie hat die Caritas darauf reagiert?
Sie hat die Arbeitslosen in vielen Genossenschaften organisiert, mit der
Hilfe von Misereor und anderen kirchlichen Gebern. Für mich war das der Weg
zum demokratischen Sozialismus, der Selbstorganisierung der Arbeiter*innen.
1996 haben wir von der PT das für São Paulo vorgeschlagen – als Mittel
gegen die Arbeitslosigkeit.
Das war auch die Hochzeit der Landlosenbewegung MST.
Ja, nicht umsonst sind die MST-Siedlungen als Kooperativen organisiert. Als
wir die Solidarische Ökonomie entwickelten, haben wir alle Prinzipien des
Genossenschaftswesens übernommen: offene Türen, ein Mitglied, eine Stimme,
alles wird gemeinsam beschlossen, niemand kommandiert die anderen herum.
Und dann gibt es die Bewegung der Belegschaftsübernahmen, in Argentinien ab
der Finanzkrise von 2002, aber auch in Brasilien …
Ja, hier hat das mit linken Gewerkschafter*innen angefangen. Es wurden
viele Genossenschaften gegründet, um Fabrikschließungen zu verhindern, in
der Regel hat das geklappt. In Argentinien noch besser …
Und in Europa?
Da kämpft eine große Bewegung um solche Fabriken. Am 31. Juli hat das
französische Parlament ein neues Gesetz zur Solidarischen Ökonomie
verabschiedet, mit unerhört guten Bestimmungen: Die Belegschaften müssen
vom Fabrikbesitzen regelmäßig über den Gang der Geschäfte informiert
werden, darüber, ob es Pläne gibt, in ein anderes Land zu gehen, ob ein
Verkauf ansteht. Auch in Italien gibt es ein neues Gesetz, das
Belegschaftsübernahmen erleichtert mit technischen und finanziellen Hilfen.
2003 hat Sie der damalige Präsident Lula zum Staatssekretär für
Solidarische Ökonomie im Arbeitsministerium berufen. Welche Bilanz ziehen
Sie?
22 Ministerien unterstützen heute solche Initiativen, das war wohl der
größte Fortschritt. Zum Beispiel gleich zu Anfang das
Gesundheitsministerium. Schon damals war die Bewegung stark, Psychiatrien
zu schließen, und es hieß: „Was machen wir mit diesen Verrückten?“ Sie
haben schließlich einen Mindestlohn bekommen, das Gesundheitsministerium
ist eingestiegen, und heute haben wir landesweit 660 dieser
Genossenschaften mit „Verrückten“. Es ist faszinierend, vor Kurzem habe ich
von einer gehört, die heißt „Verrückt nach dir”!
Wie viele Betriebe der Solidarischen Ökonomie gibt es in Brasilien?
Zwischen 20.000 und 30.000. Es ist schwer, verlässliche Zahlen zu bekommen,
es gibt viele Neugründungen, aber auch viele, die nicht mehr funktionieren.
Wir gehen von insgesamt drei Millionen Menschen aus und von drei Prozent
des Bruttoinlandsprodukts.
Und Ihr Sekretariat greift Ihnen unter die Arme?
Ja, aber nicht nur finanziell, die MST-Kooperativen wollen vor allem
technische und politische Weiterbildung. Ebenso die
Müllsammlergenossenschaften, das sind sehr schlecht ausgebildete Menschen,
oft Analphabet*innen. Wir arbeiten mit denen zusammen, die ganz unten sind.
Also Solidarische Ökonomie als Sozialpolitik.
Ja.
Wo bleibt da der antikapitalistische Horizont?
Die 21 Jahre Militärdiktatur waren eine große Lektion für mich. Wir können
nicht den Kapitalismus abschaffen, solange das nicht die Mehrheit der
Bevölkerung will.
Sind die Genossenschaften nicht zu sehr vom Staat abhängig? Was würde denn
bei einem Regierungswechsel passieren?
Schwer zu sagen. Aber kann sein, dass ich schon vorher gehen muss. Das hat
man mir ausrichten lassen, denn die Präsidentin braucht die Stimmen der
Demokratischen Arbeitspartei PDT, und die wollen jetzt sämtliche Posten im
Arbeitsministerium besetzen. Meine Leute haben mir gesagt, wenn ich
entlassen werde, dann treten sie auch zurück. Wir könnten die Früchte
unserer zwölfjährigen Arbeit verlieren!
Und Dilma Rousseff könnte das tatsächlich zulassen? Ohne die Stimmen aus
dieser Szene wäre sie doch im Oktober 2014 gar nicht wiedergewählt worden!
Rousseffs Sparkurs ist auf der ganzen Linie gescheitert. Die
Steuereinnahmen sind gesunken, der Bildungs- und der Gesundheitsetat werden
gekürzt.
Auch Ihrer?
Ja, 60 Prozent unseres Budgets dürfen wir nicht ausgeben.
Warum ist Ihre Parteifreundin von ihrer nachfrageorientierten Politik
umgeschwenkt?
Ich weiß es nicht. Nach ihrer Wiederwahl hat sie eine 180-Grad-Wende
hingelegt, ohne jede Erklärung, gespenstisch. Es gibt keine
Auslandsschulden, die das nötig gemacht hätten. Das Land ist in eine tiefe
Krise gestürzt. Rousseff selbst glaubt wohl, Brasilien könne dadurch
wachsen, das Vertrauen der Investoren wiedergewinnen.
Wie die Sozialdemokraten in Europa?
Ja, genau, leider. Auch sie hat sich dieser Logik unterworfen.
4 Sep 2015
## AUTOREN
Gerhard Dilger
## TAGS
Brasilien
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