| # taz.de -- Folgen der Zuwanderung: Das neue Deutschland | |
| > Migration bewirkt, dass Routinen angepasst werden. Die Bundesrepublik | |
| > verändert sich – womöglich zum Besseren. | |
| Bild: Es ist immer besser, Einwanderung zu gestalten als sie zu erleiden | |
| Bundesinnenminister Thomas de Maizière, Chefplaner der ungeplanten | |
| Einwanderung, sinnierte jüngst in den „Tagesthemen“ darüber, dass man die… | |
| nicht so bürokratisch durchorganisieren könnte, wie man es in Deutschland | |
| gewohnt ist. Zum Beispiel könne der Brandschutz in einer improvisierten | |
| Aufnahmestelle auch mal nicht so perfekt sein. Nun ist der Brandschutz den | |
| Deutschen liebgeworden, an den Nachrüstungen haben sich so manche eine | |
| goldene Nase verdient. Und speziell bei Flüchtlingsunterkünften spricht | |
| leider einiges für akkuraten Brandschutz. | |
| Doch nicht nur bei diesem Thema werden die Deutschen improvisieren, sich | |
| lockern und anpassen müssen. Im Blick auf die fortbestehenden | |
| Fluchtursachen in Afrika, im Nahen Osten und in Asien, zu denen noch klima- | |
| und umweltbedingter Druck kommen wird, kann man die aktuellen | |
| Zuwanderungsraten nicht länger als vorübergehende Ausschläge nach oben | |
| bewerten. Weitere Millionen Menschen werden aus den unterschiedlichsten | |
| Gründen und Regionen nach Europa kommen. | |
| Die Abschreckung, auf die auch Deutschland lange gesetzt und sich dafür mit | |
| Autokraten verbündet hat, ist gescheitert, und alle wissen, dass die groß | |
| angekündigte Rückführung von Hunderttausenden, selbst bei den damit vor | |
| allem gemeinten Kosovaren und Albanern, die blanke Illusion ist. | |
| Was jetzt geschehen muss? Legalisierung sofort, mobile Hilfen durch | |
| Technisches Hilfswerk, Bundeswehr und Freiwillige (die wir in weit | |
| entfernten Katastrophengebieten binnen drei Tagen auf die Beine stellen), | |
| Provisorien winterfest machen. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble muss | |
| Milliarden in die Hand nehmen, damit die Kommunen das soziale Experiment | |
| wagen können, das Einwanderung stets darstellt. | |
| ## Wert- und Verteilungskonflikte | |
| Sie wird dieses Land nicht nur beim Brandschutz verändern. Wie die | |
| Bundesrepublik alt 1990 etwas weniger gläubig, weniger westlich und | |
| kurzzeitig weniger „durchmischt“ wurde, wird die Bundesrepublik neu von | |
| erheblich mehr Nichtweißen, Gläubigen und Menschen bevölkert sein, die | |
| Bürgerfreiheiten bisher selten in Anspruch nehmen durften und mit | |
| demokratischen Prozeduren wenig Erfahrung haben. Deutschland wird Wert- und | |
| Verteilungskonflikte erleben, gewohnte Routinen und symbolische Ordnungen | |
| werden herausgefordert. | |
| Das ist zwar schon seit Jahrzehnten im Gange, in denen die Bundesrepublik | |
| definitiv zum Einwanderungsland geworden ist und sich mental zum Besseren | |
| entwickelt hat. Doch der medial als „neue Völkerwanderung“ überinszenierte | |
| Andrang in diesen Monaten und die offenkundige Notsituation in vielen | |
| Städten und Gemeinden dämpft das Zutrauen, damit schon irgendwie | |
| zurechtzukommen. | |
| Weil sich viele schwer tun, glaubt das „Pack“ (Sigmar Gabriel), von | |
| gehässigen Pegida-Phrasen zu feigen Mordanschlägen übergehen zu dürfen. Was | |
| die Nazis nicht bedacht haben: Gerade das ermuntert die „Mitte der | |
| Gesellschaft“, wie Bild es ausdrückt, zum massenhaften „Wir helfen!“. | |
| Es bleibt die mentale Schwierigkeit selbst der Gutwilligen und | |
| Hilfsbereiten, sich auf derart rasanten sozialen Wandel einzustellen und | |
| dermaßen „andere Verhältnisse“ zu antizipieren, ohne nervös zu werden. D… | |
| bewundernswerte Improvisationstalent, das in verschiedensten Initiativen | |
| jetzt zum Vorschein kommt, muss enttäuschungsresistent werden. | |
| Einwanderungsgesellschaften heizen die soziale Konkurrenz an, sie lassen | |
| ethnische Nischen und Religionsgemeinschaften zu, die schwer in unser | |
| Staat-Kirchen-Verhältnis hineinpassen, und sie sind für native speaker | |
| irritierend vielsprachig. | |
| ## Erschütterte Willkommensbereitschaft | |
| Aus Menschen, die derzeit in Notaufnahmen oder auf Transitwegen zu sehen | |
| sind, werden Nachbarn, Kollegen und Wettbewerber um Transferleistungen, | |
| Lohneinkommen und öffentliche Güter wie Bildung und Gesundheit – und dies | |
| vor dem Hintergrund seit Jahren wachsender sozialer Ungleichheit. Und es | |
| kommt eine ganze Generation begeisterter Konsumenten in ein Land, das sich | |
| im Blick auf den Klimawandel und andere Übel gerade postmateriell | |
| einzustellen begonnen hat. | |
| Der von Rechtspopulisten geschürte Verdacht, vor allem die Ärmsten müssten | |
| die Kosten der Masseneinwanderung tragen, muss effektiv widerlegt werden. | |
| Migration stellt oft manchesterkapitalistische Verhältnisse (wieder) her, | |
| aber sie stellt auch die soziale Frage in größerer Schärfe. | |
| Mittel- und langfristig mag sich Migration rechnen, indem sie | |
| Arbeitsmarktlücken und Rentenlöcher stopft und Steuersäckel und | |
| Sozialkassen füllt, kurzfristig kommt es jedoch zu Belastungen, die auch | |
| die Mittelschichten treffen werden und ihre Willkommensbereitschaft | |
| erschüttern können. Einwanderung löst dann eine neue Gerechtigkeitsdebatte | |
| aus, die Reiche und Superreiche in Zugzwang bringen sollte. | |
| Ähnlich hochgespielt werden in Einwanderungsgesellschaften | |
| Identitätsfragen. Multikulti, wir sagen es seit Jahrzehnten, bedeutet eine | |
| anstrengende Daueraushandlung von Normen und Werten. Dass Konflikte | |
| gewaltfrei zu lösen, Frauen und Mädchen zu respektieren und andere | |
| Konfessionen unbedingt zu tolerieren sind, bleibt klar und sollte nicht | |
| „postkolonial“ relativiert werden. Aber auch diese Selbstverständlichkeiten | |
| muss man in Institutionen und Alltagssituationen immer neu plausibel machen | |
| und einüben. | |
| ## „Kurdischer Europäer aus Berlin“ | |
| Dazu gehört, den oft ganz unbewussten Dünkel der Einheimischen und auch | |
| versteckte Formen von Rassendiskriminierung abzustellen. Krankenhäuser, | |
| Polizeiwachen, Amtsgerichte und Sportvereine sind Arenen dieser permanenten | |
| Aushandlung symbolischer Ordnungen und lebensweltlicher Regeln, dort | |
| treffen Migranten als Ärzte, Polizisten, Anwälte und Trainer auf eine | |
| Migrantenklientel. | |
| Ihnen fallen Bindestrich-Identitäten wie „kosmopolitische Frankfurterin aus | |
| Senegal“ oder „kurdischer Europäer aus Berlin“ leichter, und manche | |
| möchten, wie eine Schülergruppe, die uns neulich begegnet ist, beim | |
| Sprachunterricht für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge „etwas | |
| zurückgeben“ (und nebenbei selbst ein wenig deutsche Grammatik lernen). | |
| Vielen Einheimischen wird die Aushandlung schwerfallen, einige werden sich | |
| als „wahre Deutsche“ profilieren wollen. Politisch ist fraglich, ob | |
| Deutschland wie bisher von radikalen Rechten in den Parlamenten verschont | |
| bleiben wird, anders als fast alle europäischen Staaten zwischen Norwegen | |
| und Griechenland, den Niederlanden und Bulgarien. | |
| Ebenso denkbar ist die Bildung von ethnischen und religiösen Parteien, die | |
| Politisierung des Diaspora-Islams und eine Fragmentierung des politischen | |
| Systems, auf die unsere Parteiendemokratie schlecht eingestellt ist. Ein | |
| Einwanderungsgesetz kann man aber nicht auf die lange Bank schieben, um die | |
| Bildung einer Rechtspartei zu verhindern. | |
| ## Dringend: Vertrauen | |
| Hauptschauplatz des Neuen Deutschlands sind schon länger die Schulen, aus | |
| denen wahre Community Center werden sollten, die Deutschkurse auch für die | |
| erwachsenen Flüchtlinge anbieten und das kommunale Leben um sich herum | |
| organisieren. Das wäre die wichtigste Bildungsreform seit Jahrzehnten. | |
| Sie setzt bisher Undenkbares voraus, wie Geld ohne Umweg über die | |
| Wohlfahrtsbürokratie an Einwanderergemeinschaften zu transferieren, die | |
| sich in Einwanderungsländern erfahrungsgemäß spontan bilden und die am | |
| besten Hilfe zur Selbsthilfe leisten können. Vorgeschlagen wurde auch ein | |
| regelrechtes Bonussystem für Gemeinden, die mehr Flüchtlinge aufnehmen. | |
| Das gewaltige Volksvermögen dieser Republik könnte sich mit der | |
| Improvisationsgabe von Exilanten und Migranten verbinden und die soziale | |
| Innovation von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik vorantreiben. Diese | |
| konkrete Utopie macht klar, was am dringendsten von uns verlangt wird: | |
| Vertrauen. Vertrauen, dass der Einwanderungsprozess mittelfristig gelingen | |
| wird. Dass er dieses Land voranbringen kann und es aus seiner Behäbigkeit | |
| herauszwingt, ohne Schaden zu nehmen. | |
| Wir haben immer gesagt: Einwanderung wird kein Spaziergang – we never | |
| promised you a rosegarden. Aber es ist immer besser, sie zu gestalten als | |
| sie zu erleiden. Nutzen wir die Gunst der Stunde. | |
| 1 Sep 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Claus Leggewie | |
| Daniel Cohn-Bendit | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| Einwanderung | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| Einwanderung | |
| Einwanderung | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| Ungarn | |
| Hamburg | |
| Flüchtlinge | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Integrationsdebatte in den Niederlanden: Partei für Ali und Jan | |
| Denk – so heißt eine neue Partei in den Niederlanden. In ihr sammeln sich | |
| viele Migranten, die Rechtspopulisten entgegenwirken wollen. | |
| Erwachsenenbildung für Flüchtlinge: Schule schlägt Volkshochschule | |
| Viele Lehrkräfte von Volkshochschulen wechseln wegen besserer Bezahlung an | |
| Schulen – dann aber fehlen sie in Deutschkursen für erwachsene Flüchtlinge. | |
| Einwanderung nach Deutschland: Willkommen im Paragrafendschungel | |
| Es gibt Möglichkeiten, zum Arbeiten nach Deutschland zu kommen. Aber die | |
| dazugehörenden Regeln sind kompliziert. | |
| Einwanderungsgesetz für Deutschland: SPD drückt aufs Tempo | |
| Die SPD will bis Jahresende eine Grundsatzentscheidung zum | |
| Einwanderungsgesetz. Fraktionschef Oppermann warnt die Kanzlerin vor einem | |
| schweren Fehler. | |
| Fliehende auf dem Budapester Ostbahnhof: Kein Zug nach Westen nimmt sie mit | |
| Auf dem Budapester Ostbahnhof herrschen chaotische Zustände. Die Polizei | |
| hat ihn zeitweise komplett gesperrt. Rund 2.000 Fliehende feiern Merkel. | |
| Zusicherung von Bayerns Innenminister: Flüchtlinge dürfen in Bayern bleiben | |
| Die Flüchtlinge bleiben erstmal, Herrmann hält das für | |
| „selbstverständlich“. Außerdem wurde im bayerischen Munching ein | |
| Balkan-Zentrum eröffnet. | |
| Flüchtling Khaled A. übers Ankommen: „Es ist vollkommen willkürlich“ | |
| Khaled A. floh aus Syrien, als eine Bombe neben ihm explodierte. Er spricht | |
| über Privatsphäre in der Hamburger Messe, Warten und die Angst nach den | |
| Anschlägen. | |
| Kommentar Flüchtlingsunterbringung: Der Flüchtling, dein Untermieter | |
| Bei der Unterbringung von Flüchtlingen sprechen viele von einer Art | |
| Notstand, aber kaum jemand will daraus ganz persönlich die Konsequenzen | |
| ziehen. |