| # taz.de -- Syrien nach dem Arabischen Frühling: „Das wird alles ziemlich h�… | |
| > Säkularismus ist die Voraussetzung für Fortschritt, sagt der syrische | |
| > Philosoph Sadik al-Azm. Ein Gespräch über erstarkende Islamisten und die | |
| > Zukunft Syriens. | |
| Bild: Sadik al-Azm bei der Verleihung der Goethe-Medaille am 28. August im Weim… | |
| taz: Herr al-Azm, eines Ihrer ersten Werke, mit denen Sie bekannt geworden | |
| sind, war die „Kritik des religiösen Denkens“ aus dem Jahr 1969. Welche | |
| Rolle hat Religion für Sie im damaligen Damaskus gespielt? | |
| Sadik al-Azm: Ich wurde sehr säkular erzogen. Natürlich sah sich jeder als | |
| ein guter Muslim, es gab aber nichts Dogmatisches, nicht einmal eine | |
| alltägliche Beschäftigung mit der Religion. Die Werte, die meine Eltern | |
| kommunizierten, waren die fortschrittlichen kemalistischen Werte dieser | |
| Zeit. Erziehung und Kultur meines Vaters kamen aus Istanbul. Nach dem | |
| Ersten Weltkrieg verbrachte er einige Zeit in Paris und auf Reisen, bevor | |
| er sich in Damaskus niederließ und heiratete. | |
| Einige Ihrer Vorfahren waren Paschas, Statthalter der osmanischen Herrscher | |
| aus der heutigen Türkei. | |
| Als Kaiser Wilhelm II. in die Region reiste, begleitete ihn mein Großvater. | |
| Ich habe Fotos von Wilhelm auf seinem weißen Pferd, mein Großvater daneben, | |
| Wilhelm in der Omaijaden-Moschee oder im Azm-Palast, dem Palast unserer | |
| Familie in Damaskus. Die al-Azms blieben bis Mitte der 1960er eine bekannte | |
| politische Familie in Syrien. Chalid al-Azm war Premierminister, als die | |
| sozialistische Baath-Partei am 8. März 1963 putschte. Im Zuge der | |
| anschließenden Landreform verloren die Azms sehr viel Land. | |
| Einige Putsche später kam Hafis al-Assad an die Macht, der Vater des | |
| jetzigen Präsidenten Baschar al-Assad. Sie haben auch über den | |
| Sechstagekrieg von 1967 geschrieben, den eine Koalition arabischer Staaten | |
| gegen Israel krachend verlor. Die Folgen der Niederlage sind bis heute | |
| spürbar. | |
| Absolut. Im Kollaps im Krieg von 1967 brach der arabische ideologische und | |
| kulturelle Konsens – arabischer Nationalismus, arabischer Sozialismus, | |
| arabischer Populismus – vollständig zusammen. Entscheidend war, dass diese | |
| Strömungen nicht auf natürliche Weise zu Ende gingen, sondern wie mit einer | |
| Bombe, die allem den Sauerstoff entzieht. Es entstand ein großes Vakuum, | |
| und es war ganz natürlich, dass die Menschen zum Islam zurückkehrten. Die | |
| Tatsache, dass diese damals fortschrittlich genannten Regime verloren | |
| hatten, diskreditierte sie völlig. Die islamistischen Strömungen nutzten | |
| die Gelegenheit und formierten sich, bis sie zu Beginn der 1970er zu einer | |
| sichtbaren Kraft wurden. Das war der Aufstieg des islamischen | |
| Fundamentalismus. | |
| Heute ist in großen Teilen der Region eine Rückkehr zur Religiosität zu | |
| beobachten, auch in der Türkei unter Erdoğ an. Ist der Säkularismus am | |
| Ende? | |
| Es kommt darauf an, wie man Säkularismus definiert. In Ägypten zum Beispiel | |
| hat die religiöse Al-Azhar-Behörde nicht das Sagen im Erziehungssystem, die | |
| Mullahs beherrschen nicht die Gerichtsbarkeit. Aber die Frage ist: Wer | |
| kontrolliert das, was geschieht? Für mich sind die Islamisten eine | |
| restauratorische Bewegung, so etwas wie eine konterreformatorische Kirche. | |
| Sie wollen die Kontrolle über Dinge wiedererlangen, die ihrer Meinung nach | |
| verloren gegangen sind. Wenn man unter Säkularismus die tatsächliche | |
| Trennung zwischen Staat und Moschee versteht – dann gibt es diese Trennung | |
| nicht, weder de facto noch de jure. Das gibt nur niemand zu. Gut, seit dem | |
| Aufkommen des „Islamischen Staats“ sind sich manche Menschen nicht mehr so | |
| sicher, ob sie die Scharia wirklich wollen. | |
| Wie wichtig wäre eine stärkere Säkularisierung für die arabisch-islamische | |
| Welt? | |
| Nehmen wir den Irak als Beispiel, wo es die Schiiten, die Sunniten und die | |
| Kurden gibt. Die Gruppen müssen verstehen, dass die Regierung nicht | |
| schiitisch, nicht sunnitisch, nicht kurdisch sein kann. Sie muss zivil, | |
| vielleicht säkular, vielleicht technokratisch sein. Ansonsten gibt es Krieg | |
| und das Land bricht auseinander. Die Regierung muss, im Gegensatz zur | |
| ethnischen und religiös-konfessionellen Zusammensetzung der Bevölkerung, | |
| neutral sein. | |
| Eine säkulare Regierung ist eine Voraussetzung für den Fortschritt? | |
| Nicht nur für den Fortschritt, sondern für das Überleben. Das Problem ist, | |
| dass man erst durch so etwas wie den Dreißigjährigen Krieg gehen muss, um | |
| das zu verstehen. | |
| Ihre Ansichten haben in der arabischen Welt immer für Kontroversen gesorgt, | |
| viele Ihrer Bücher wurden verboten. | |
| Das stimmt. Aber wenn in der arabischen Welt ein Buch verboten wird, | |
| bedeutet das im Normalfall, dass es überall zu haben ist. | |
| Was genau in Ihren Büchern macht den Machthabern denn so viel Angst, dass | |
| sie sie verbieten? | |
| Meistens sind das eher lächerliche Vorgänge. Der Informationsminister will | |
| nicht, dass ihn zum Beispiel der Scheich einer Moschee anruft und sagt, da | |
| gibt es ein Buch auf dem Markt, das den Islam angreift oder zionistische | |
| Propaganda verbreitet. Wenn dann der Anruf kommt, kann der Minister sagen, | |
| wir haben das Buch verboten – Problem gelöst. Natürlich zieht das Buch dann | |
| in Schmuggler- und anderen Netzwerken seine Kreise. Das wird manchmal zu | |
| einer Art Witz. Ich war vor Jahren in Abu Dhabi in einer Diskussion über | |
| verbotene Bücher, und sie lagen vor uns auf dem Tisch. Eigentlich hätte die | |
| Polizei kommen und sie konfiszieren müssen. Aber so ist die arabische Welt. | |
| Sie leben seit 2011 nicht mehr in Syrien, sondern zumeist in Berlin. Wie | |
| halten Sie Kontakt in Ihr Heimatland? | |
| Ich musste das Land verlassen, weil der syrische Geheimdienst hinter mir | |
| her war. Meine engere Familie lebt auch nicht mehr in Syrien, aber meine | |
| Frau hat ein großes Netzwerk, sie betreibt Schulen für Flüchtlingskinder im | |
| Norden, zum Beispiel in Kafr Nabl. Sie macht Fundraising und kümmert sich | |
| um die Aktivisten, die dort arbeiten. Viele von ihnen sind nicht dazu | |
| ausgebildet, Schulen zu leiten. | |
| Ist ziviles Engagement überhaupt noch möglich? | |
| Die Zivilgesellschaft ist besiegt worden. Viele und die besten ihrer | |
| Mitglieder sind getötet, ins Gefängnis geworfen, gefoltert worden, manche | |
| mussten fliehen. Es gibt die Lokalen Koordinationskomitees, aber die sind | |
| nicht mehr so effektiv wie zu Beginn. Was der arabische Frühling gezeigt | |
| hat, war, dass unsere Zivilgesellschaften nicht stark genug waren. | |
| Vielleicht mit Ausnahme von Tunesien. | |
| Und auch Tunesien hat ein Terrorismusproblem. | |
| Ja, man weiß nicht, wie stabil Tunesien wirklich ist. Nirgendwo ist die | |
| Zivilgesellschaft stark genug geworden, um die Gesellschaft anzuführen. | |
| Hat der Arabische Frühling überhaupt etwas erreicht? | |
| Sicher hat er etwas bewirkt, zumindest hat er, so wie es Gorbatschow in der | |
| Sowjetunion getan hat, den Deckel angehoben – und alles kam hoch. Außerdem | |
| hat er es für die Präsidenten beinahe unmöglich gemacht, die Macht an ihre | |
| Söhne oder Brüder weiterzureichen. Das ist eine Errungenschaft des | |
| Arabischen Frühlings. | |
| Wie geht es Ihrer Ansicht nach mit Syrien weiter? | |
| Die Rachegefühle und die Mobilmachung auf der Basis religiösen | |
| Sektierertums sind zurzeit so hoch, dass ich nichts Gutes erkennen kann. | |
| Das wird alles ziemlich hässlich werden, für eine ganze Weile. Selbst wenn | |
| Baschar morgen plötzlich abtreten oder sterben sollte. Meine Erwartung ist, | |
| dass nach seinem Ende Kämpfe zwischen verschiedenen Warlords ausbrechen | |
| werden und dass es zu Pogromen kommt. | |
| Zwischen der sunnitischen Mehrheit und den Alawiten, zu denen Assad gehört? | |
| Unter den Revolutionären gibt es eine große Vendetta-Fraktion. Was sie | |
| wollen, ist: Rache nehmen für das Hama-Massaker oder das Massaker im | |
| Palmyra-Gefängnis, für alles Mögliche. Wir hoffen auf das Beste, aber das | |
| wird passieren. Das andere Szenario ist: Wenn das Regime kollabiert, wird | |
| es ein ähnliches wie in Afghanistan sein, nachdem die Sowjets gegangen | |
| sind. Die Warlords werden darum kämpfen, wer als Erstes Damaskus und den | |
| Präsidentenpalast einnimmt. Und wenn im neuen Syrien die Islamisten eine | |
| starke Rolle spielen, ist eine Rückkehr für mich keine Option. Jemand, der | |
| die „Kritik des religiösen Denkens“ veröffentlicht hat, wird dort nicht | |
| willkommen sein. | |
| 1 Sep 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Christopher Resch | |
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