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# taz.de -- „Sea Watch“ rettet Flüchtlinge: In einem Boot
> Eigentlich wollte die „Sea Watch“-Crew nur auf Flüchtlinge im Mittelmeer
> aufmerksam machen. Jetzt hat sie auch Rettungsinseln an Bord.
Bild: Volle Fahrt in Richtung eines Schiffes in Seenot
Lampedusa taz | Das Meer vor Libyen ist ruhig an jenem Morgen Anfang Juli,
als der Einsatz der „Sea Watch“ beginnt. Vor zwei Stunden ist die Sonne
aufgegangen, die Sicht ist klar. Frank Dörner sieht durch sein Fernglas
einen grauen Gegenstand im Wasser. Es dauert einen Moment, dann ist er
sicher: Er hat ein Schlauchboot entdeckt.
Es ist so voll besetzt, dass die Menschen stehen müssen, und hat
Schlagseite. 116 Flüchtlinge. Frank Dörner ist der Arzt der „Sea
Watch“-Crew, ein großer schlanker Mann mit freundlichem Lächeln. Wenn er
von diesem Einsatz erzählt, schildert er alles so anschaulich, als sei man
dabei gewesen.
„All hands“, ruft Kapitän Ingo Werth – alle Mann an Deck, Rettungswesten
an, Helme auf, das Beiboot zu Wasser. Zu viert sind sie vorausgefahren,
sagt Dörner. Sie hatten ja die Schritte alle bis ins Detail geprobt.
Vorsichtig fahren sie von hinten an das Schlauchboot heran.
„Hello, my name is Frank“, stellt Dörner sich vor und erklärt, dass sie a…
Deutschland kommen und Hilfe leisten wollen. Einige der Flüchtlinge
applaudieren, andere lächeln nur erleichtert. Ein Mann streckt ihnen eilig
ein junges Mädchen entgegen, als sie die Rettungswesten übergeben. Mit
lautem Getöse entfalten sich zwei große Rettungsinseln.
## Ein Fischkutter zur Hilfe
Rückblick: Mitte April. Dass ein Privatmann, ein Unternehmer aus
Brandenburg, auf eigene Faust ein Schiff ins Mittelmeer schicken will, um
Flüchtlinge zu retten, elektrisiert die Republik. „Sea Watch“-Initiator
Harald Höppner ist bei Günter Jauch zu Gast. Bei dem emotionalen Auftritt
fordert er das Publikum zu einer Schweigeminute auf.
Auf welche Mission er die „Sea Watch“, einen hundert Jahre alten umgebauten
Fischkutter, und die vielen Freiwilligen, die sich nach dem Auftritt
melden, schicken wird, weiß er da noch nicht. Höppner sagt: „Wir werden
dieses Drama in die Medien bringen.“ Es sah aus, als sollte die „Sea Watch�…
vor allem das Geschehen auf dem Mittelmeer dokumentieren und Hilfe
anfordern. Es kam aber anders. Heute leistet die Crew fast täglich
Seenotrettung.
Eine Woche nach dem Einsatz, bei dem dann die Küstenwache die 116
Flüchtlinge nach Lampedusa brachte, stehen Frank Dörner und Ingo Werth
sonnengebräunt in Badehose und Shirt an einem kleinen Palmenstrand am alten
Hafen der Insel. Von den Mühen der vergangenen Einsätze ist nichts zu
sehen. Morgen geht es zurück. Dörner, früher Geschäftsführer von Ärzte oh…
Grenzen, wird dann eine Arztpraxis in Berlin eröffnen. Werth wird wieder in
seiner Autowerkstatt in Hamburg arbeiten.
## Medikamente, Telefon und Laptop
Neun Tage waren sie auf hoher See unterwegs, insgesamt haben sie fast 600
Flüchtlinge von sechs Booten gerettet. Dörner erzählt, wie ihm ein
Flüchtling schüchtern die Hand reichte und sagte: „Thank you for the
service, Sir.“ Er lächelt.
Jetzt liegt das blaue Schiff im Hafen, in wenigen Tagen wird es mit der
neuen Crew in See stechen. 21 Meter ist es lang, etwa so groß wie die
Luxusjachten nebenan. Auf Deck ist aber kaum Platz – Rettungswesten und
-inseln, ein Beiboot, Hunderte Wasserflaschen. Im holzvertäfelten
Aufenthaltsraum stapeln sich Medikamente. Helme hängen griffbereit an der
Wand. Ein Telefon und ein Laptop bilden die Kommunikationszentrale.
Von dem kleinen Strand aus blicken der Kapitän und der Arzt auf die andere
Hafenseite. Dort liegen vier Schiffe der Guardia Costiera und zwei
Kriegsschiffe der Guardia di Finanzia, des italienischen Zolls. Laut
knatternd fliegt ein Hubschrauber der Küstenwache im Tiefflug an ihnen
vorbei. Werth dreht sich zu Dörner. „Schaulaufen“, sagt er.
## Frontex rettet nicht
Meldungen darüber, dass etwa die deutsche Fregatte „Hessen“ mehrere Hundert
Menschen aus dem Meer gezogen habe, treiben dem 56-jährigen Norddeutschen
Werth Falten ins Gesicht. „Die haben keinen einzigen Menschen aktiv
gerettet“, sagt er. Sie brächten lediglich bereits gerettete Flüchtlinge an
Land. Ohne gezielt angefordert zu werden, machten die Schiffe, die etwa für
die EU-Grenzschutzagentur Frontex unterwegs sind, gar nichts. Dabei wüsste
Frontex, was auf dem Meer vor sich geht, es werde mit Dutzenden Booten,
Drohnen und Seeaufklärungsflugzeugen überwacht, da sind sich die beiden
Aktivisten sicher.
Die Rettungen übernehmen aber ausschließlich private Initiativen wie die
„Sea Watch“ oder die maltesische Moas mit ihrer MY „Phoenix“ sowie zwei
Schiffe von Ärzte ohne Grenzen. Erst dann sammeln die Fregatten die
Menschen ein. Die vier Bundeswehrschiffe im Mittelmeer tun inzwischen nicht
einmal mehr das, sie haben sich nach Sizilien zurückgezogen. Auch die
italienische Küstenwache fährt nur raus, wenn es einen Hilferuf gegeben
hat.
„Ich wollte von Anfang an bei „Sea Watch“ dabei sein. Ich hätte auch das
Deck geschrubbt“, sagt Ingo Werth. Politisch aktiv ist er seit seiner
frühen Jugend: Antifa, Jugendzentrum, Anti-AKW. Seit zwei Jahren kümmert er
sich um zwölf Flüchtlinge in Hamburg. Sein feiner Akzent beginnt zu
klingen. Eine Zeit lang hätten sie in seiner Werkstatt gewohnt, inzwischen
habe er mit Hilfe der Kirche ein Haus für sie gefunden. Er ist stolz.
„Richtig gute Typen sind das“, sagt er.
An ihrem Abschlussabend sitzt die Crew in einer Pizzeria. Sie reden wild
durcheinander, wie auf einem Klassenausflug. Die anstrengenden Tage haben
zusammengeschweißt. Ein junger Mann hält eine Lobesrede auf den Kapitän.
Werth, mit den kurzen grauen Haaren und den markanten Gesichtszügen,
lächelt verlegen und hebt abwehrend die Hände. Der Einsatz war erfolgreich.
Niemand ist zu Schaden gekommen, nie kamen sie zu spät.
„Wir hatten Glück, dass wir nie in eine Katastrophe verwickelt waren“, sagt
Werth. Das habe ihm davor Sorgen bereitet. Gezweifelt habe er dennoch nie,
auch der Zuspruch von Familie und Freunden war groß. Höppner und seine
Mitstreiter stellten das Projekt früh auf professionelle Beine. Sie
sammelten Spenden, investierten in eine moderne
Satellitenkommunikationsanlage und umfangreiches Rettungsequipment. Es gab
viel Zuspruch, aber auch Kritik. Auf Facebook etwa wurde der Initiative
vorgeworfen, sie würde nur die Symptome und nicht die Ursachen der Flucht
bekämpfen.
## Die nächste Crew
Der neue Kapitän heißt Bruno Wolf. Seine Stimme ist durchdringend, die
Kommandos sind präzise: Zwei Männer Backbord, zwei Steuerbord, einer muss
die Ankerkette lösen. Auf Wolfs T-Shirt steht: „Wasch-Bär-Bauch“. „Chef,
ich glaub, wir stehen“, sagt einer der Männer, als das maximale Tempo
erreicht ist. „Für wehende Haare brauchen wir einen Fön“, antwortet Wolf.
Wenig später legt das Schiff im Industrieteil des Hafens an, wo die neuen
Rettungsinseln verladen werden sollen.
Eine Woche lang bereitet sich die neue neunköpfige Mannschaft – darunter
Nautiker, Mediziner und Schiffsmechaniker – auf ihren Einsatz vor. Sie
müssen das Schiff kennenlernen, trainieren, wie das Beiboot zu Wasser
gelassen wird, Reparaturen durchführen und Material verladen. Die alte Crew
gibt Einweisungen, und eine italienische Rechtsanwältin schult in
internationalem Seerecht.
Am Strand des Hauptortes Lampedusa gibt es schon vormittags keine freien
Liegen mehr. Strahlend blau glitzert das Meer im Sonnenschein, die
aneinandergereihten zweistöckigen Häuschen der Altstadt in Blickweite.
Badegäste und „Sea Watch“-Crew können von hier aus jeden Morgen der Fähre
„Siremar“ zuschauen, wie sie Flüchtlinge nach Sizilien bringt.
## Kapitän und Kameramann
Die Motivation für das Projekt nimmt der gebürtige Österreicher Wolf aus
seinem „eigenen Zugang zur Migration“, sagt er. Zwanzig Jahre verbrachte er
außerhalb Europas. Er arbeitete als Fotograf in Kolumbien, vor zwei Jahren
ist er mit Frau und Kindern nach Hannover gezogen. Durch ihren
österreichischen Pass seien sie in Italien gut aufgenommen worden, doch bei
Flüchtlingen könne davon keine Rede sein. „Wir wollen Frontex dazu zwingen,
Stellung zu beziehen“, sagt er.
Immer wieder holt Wolf eine kleine Kamera hervor und filmt die Arbeiten an
Bord der „Sea Watch“. Er dreht eine Reportage für Spiegel TV. Nicht für
alle Crewmitglieder ist die Doppelfunktion ihres Kapitäns unproblematisch.
Sie wollen nicht auf einem schwimmenden Big-Brother-Container arbeiten,
sagen sie. Auch weil diejenigen, die am Steuer der Boote sitzen, unter
Schleuserverdacht geraten könnten, müsse ein sensibler Umgang mit dem
Filmen der Einsätze gefunden werden.
Weil er sich mit der letzten Crew nicht einigen konnte, wann er filmen
darf, musste der RBB-Reporter Michael Hölzen noch vor dem Einsatz das
Schiff wieder verlassen. Für ihn „verbannte das Projekt damit einen
kritischen Journalisten“. Die Freiwilligen der „Sea Watch“ sehen das
anders. Sie wollten, dass Hölzen ihre Persönlichkeitsrechte achte, dazu sei
er nicht bereit gewesen. Wolf hat nun versprochen, nur nach Absprache zu
filmen.
Als auf Lampedusa gegen 20 Uhr die Sonne untergeht, ist die Crew noch immer
damit beschäftigt, die neuen Rettungsinseln an Bord zu hieven. Zum Start
der Rettungsmission ist außer ihnen nur die „Argos“, eines der beiden
Schiffe von Ärzte ohne Grenzen, in der „Search and Rescue Zone“. Das andere
der beiden Schiffe wird immer noch auf eine Genehmigung warten, Flüchtlinge
in Italien abzusetzen. Und das Schiff der Initiative Moas wird noch für
Reparaturarbeiten auf Malta liegen.
Vom offenen Meer nähert sich der arbeitenden Crew ein Schiff der Guardia
Costiera. An Bord sind diesmal nicht nur die Seemänner, sondern auch
mehrere Dutzend Flüchtlinge. Sie stehen regungslos an der Reling und
blicken in Richtung Europa.
2 Aug 2015
## AUTOREN
Erik Peter
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