# taz.de -- Pirat Delius über Berliner Politik: „Das revolutionäre Element … | |
> Die Berliner Piraten-Fraktion bereitet sich auf das Ende ihrer Arbeit | |
> vor, sagt ihr Chef Martin Delius – und zieht eine düstere Bilanz der | |
> politischen Kultur der Stadt. | |
Bild: „Die Fraktion macht natürlich keinen Wahlkampf.“: Berlins Piraten-Fr… | |
taz: Herr Delius, ist das nun das Abschiedsgespräch mit Ihnen? | |
Martin Delius: Eher nicht. Die taz wird wohl hoffentlich auch in den | |
nächsten Monaten noch Interesse an der Piratenfraktion haben. | |
Vielleicht in den nächsten Monaten, aber nach der Abgeordnetenhauswahl in | |
wenig mehr als einem Jahr wird es wohl keine Piratenfraktion mehr geben. | |
Ja, wir als Fraktion bereiten uns jetzt schon darauf vor, dass es nach der | |
Wahl nicht mehr weiter geht. | |
Wie halten Sie als Fraktionschef unter diesen Umständen eine 15-köpfige | |
Mannschaft zusammen, die wissen muss, dass ihre Arbeitsplätze in einem Jahr | |
weg sind? Schauen sich nicht die ersten schon nach einem neuen Job um? | |
Dass sich jeder umschaut, ist nur natürlich. Es ist ja auch nur ein | |
Halbtagsparlament: Insofern hat jeder Abgeordnete die Möglichkeit, einen | |
anderen Job zu haben. | |
Wie viele von ihren 15 Fraktionsmitgliedern haben denn einen Nebenjob? | |
Das weiß ich ehrlich gesagt gar nicht. Das kann man auf den Web-Seiten der | |
Piratenfraktion nachgucken. Und was die Motivation betrifft: Da hat die | |
Fraktion Angebote an jeden gemacht, der sich motiviert fühlt. Wir haben die | |
gut laufenden Projekte „Fahrscheinloser Nahverkehr“ und den | |
Untersuchungsausschuss Staatsoper. Wir kümmern uns sogar auch um | |
Tierschutz, was bislang nicht unser Markenkern war. | |
Als Oppositionsfraktion hat man ein Jahr vor der Wahl aber nicht mehr viel | |
zu melden. Da geht es nicht um inhaltliche Angebote, sondern darum, sich | |
darauf vorzubereiten, in der nächsten Legislaturperiode eine ordentliche | |
Ausgangsposition zu haben. | |
Das sehe ich anders. Es ist nicht Aufgabe der Opposition, inhaltliche | |
Angebote zu machen – das müssen die Regierungsfraktionen machen. Doch das | |
passiert nicht, weil die Koalition von SPD und CDU kaputt ist. | |
Und was ist Aufgabe der Opposition? | |
Kritik zu üben, laut Kritik zu üben. Nachzufragen, Informationen offen zu | |
legen, die sonst im Dunkeln blieben. Das werden wir auch 2016 machen – und | |
das wird sogar noch einfacher, weil wir als Piratenfraktion nicht mehr in | |
Wahlkampfrhetorik verfallen oder Regierung im Wartestand spielen müssen wie | |
andere. | |
Keine Wahlkampfrhetorik? Sie wollen gar keinen Wahlkampf machen? | |
Die Fraktion macht natürlich keinen Wahlkampf. | |
Dass Fraktionsgelder nicht direkt in Parteiwerbung fließen dürfen, sagt das | |
Gesetz. Aber jeder Abgeordnete, der die Farben einer Partei trägt, macht | |
doch per se Wahlkampf für seine Partei, die ihn ins Parlament gebracht hat. | |
Das ist nicht die Aufgabe eines Parlamentariers. | |
Wie viele Mitglieder Ihrer Fraktion gehören überhaupt noch der | |
Piratenpartei an? | |
Das weiß ich nicht. | |
Das glauben wir nicht. | |
Das müssen Sie mir aber glauben. Das fragen wir auch nicht ab, das ist auch | |
nicht relevant. | |
Ist denn die Partei noch relevant? | |
Es existieren weiterhin Arbeitsgruppen zwischen Fraktion und Partei, | |
einzelne sind relevanter als andere. Die Piratenpartei hat immer gesagt, | |
bei uns darf jeder mitmachen, egal ob er ein Parteibuch hat oder nicht. | |
Parteitagsbeschlüsse sind auch weiterhin relevant. Man muss aber sagen: Die | |
Fraktion ist für sich ein autonomes, demokratisch organisiertes Gremium, | |
das zu allererst mal ihre eigenen Beschlüsse fassen muss. | |
Am Wochenende ist Bundesparteitag der Piraten: Fahren Sie überhaupt noch | |
hin? | |
Ich fahre nicht hin, weil ich zu dieser Zeit im Urlaub bin. | |
Was ist eigentlich bei den Piraten im Kern falsch gelaufen, dass es die | |
enge Verzahnung zwischen Partei und Fraktion nicht mehr gibt? | |
Ich bin kein Politikwissenschaftler, und ich habe auch nicht Zeit, mich mit | |
Aufstieg und Fall der Piratenpartei zu beschäftigen. Diese Frage sollten | |
Sie jemandem stellen, der am OSI [Otto-Suhr-Institut für | |
Politikwissenschaften der FU Berlin – Anm. d. Red.] arbeitet. | |
Ist es denn Ihr Ziel, über 2016 hinaus in der Politik zu sein? | |
Nein. | |
Kein Interesse? | |
Ich habe daran Interesse, aber das ist nicht mein Ziel. Das würde ja | |
bedeuten, dass ich, um meine Ziel zu erreichen, mich mehr verbiegen müsste, | |
als ich will. Mein Ziel ist es, 2016 die Arbeit, die ich angefangen habe, | |
gut zu beenden, und Dinge zu hinterlassen, die mit dem Namen | |
Piratenfraktion oder Delius verbunden sind. Darüber hinaus lege ich mich | |
nicht auf eine Politikerkarriere fest und glaube auch nicht, dass man das | |
tun sollte. | |
War die Arbeit so anstrengend? | |
Nein, aber die Situation ist wie sie ist. | |
Es geht auch anders: Der frühere FDP-Abgeordnete Rainer-Michael Lehmann hat | |
es vor der vergangenen Wahl über einen Wechsel zur SPD geschafft, im | |
Parlament zu bleiben. Kein Interesse, ebenfalls zu wechseln? | |
Nein, kein Interesse. | |
Sie haben einen Text für den Tagesspiegel geschrieben, den man als | |
Bewerbungsschreiben für die CDU interpretieren könnte. Er klingt in etwa | |
so: „Ich bin angekommen in meinem Kiez; ich bin nicht mehr rebellisch, | |
sondern urban.“ | |
Finden Sie? | |
Ja, das klingt alles schon sehr saturiert. | |
Das ist ja auch so. Ich bin 31, ich bin Familienvater, ich wohne in | |
Wilmersdorf – was viele Leute beim Lesen des Textes nicht verstanden haben: | |
Es sollte auch ein Aufruf an alle sein, den Ball flachzuhalten und die | |
wichtigen stadtpolitischen Diskussionen – Stadtentwicklung, Infrastruktur, | |
soziale Durchmischung – erwachsener anzugehen, statt sie wie jetzt | |
eskalieren zu lassen. | |
Das klingt etwas naiv. Wieviel von diesem Nehmt-Euch-mal-nicht-so-wichtig | |
konnte die Piratenfraktion in den Politikalltag transportieren? | |
Die Frage, ob ein Dialogverfahren gestartet wird, die stellt sich nicht | |
mehr – und das ist unser Verdienst. Die Frage ist nur noch, wann und wie | |
die Beteiligung abläuft. Was noch nicht passiert, ist Transparenz über das | |
eigene Vorgehen der Verwaltung und echte Verbindlichkeit für solche | |
Dialogverfahren. | |
Das ist das Vermächtnis der Piraten? | |
Dazu haben wir unseren Teil beigetragen. | |
Eines Ihrer großen Ziele in dieser Wahlperiode war ja der kostenlose | |
Nahverkehr … | |
Nein, das stimmt nicht. Von kostenlos haben wir nicht geredet. | |
Im Wahlkampf schon. | |
Auch da nicht. | |
Im Ergebnis liegt nun die Studie der Piraten zum „ticketlosen Nahverkehr“ | |
vor: Ihr Modell verpflichtet jeden, einen Beitrag zwischen 40 und 60 Euro | |
dafür zu zahlen, egal ob er Bus oder Bahn nutzt oder nicht. Ist das | |
gerecht? | |
Ja, wenn man sich anschaut, was jetzt jede und jeder einzelne indirekt für | |
die Straße oder den Schienenverkehr zahlt. Wir wollen das transparenter | |
gestalten. Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren wollen wir gar nicht | |
belasten. Das konkrete Umsetzungskonzept kommt übrigens noch. | |
Bei der Linksfraktion kostet es nur die Hälfte. | |
Da kostet es noch gar nichts, weil ich noch gar kein Konzept gesehen habe. | |
Dafür wurde es aber schon breit diskutiert. | |
Irgendwo werden wir uns in der Mitte treffen. Interessant ist ja auch, dass | |
wir 2012 für unseren Vorschlag noch ausgelacht worden sind. Da haben wir | |
als kleinste Oppositionsfraktion viel erreicht. | |
Lassen Sie uns zum BER kommen: Seit drei Jahren leiten sie den | |
Untersuchungsausschuss des Parlaments. Glauben Sie wirklich, dass der | |
Flughafen Ende 2017 öffnet? | |
(Lange Pause) Ja. | |
Warum? | |
Der Plan für 2017 ist eine Minimallösung, damit das Ding endlich ans Netz | |
gehen kann – auch, weil die Baugenehmigungen auslaufen. Der Plan ist sehr | |
knapp, Unvorhergesehenes ist nicht vorgesehen. Es wird aber auf jeden Fall | |
wesentlich mehr Geld kosten als bisher eingerechnet. | |
Über den erneuten aktuellen Nachschlag hinaus, der erst noch mit dem | |
Haushalt beschlossen werden muss? | |
Ja, das ist ja schon angekündigt worden. Nicht nur für die notwendige | |
Kapazitätserweiterung, sondern auch für begleitende Maßnahmen, etwa den | |
Umzug, der sich ja über Wochen hinziehen soll. Kurzum: Die Eröffnung 2017 | |
kann gelingen, aber damit ist das Problem BER noch nicht gelöst. Da gibt es | |
immer noch das Problem der Wirtschaftlichkeit dieses kaputten Flughafens, | |
der Umweltverträglichkeit, des Schallschutzes. Der BER wird uns als | |
Zuschussempfänger erhalten bleiben. | |
Sie haben als Ausschussvorsitzender tiefe Einblicke bekommen, wie | |
Landespolitik in der Stadt abläuft. Wie sieht ihr Resümee aus? | |
Politische Konsequenzen werden schlicht nicht gezogen, etwa was die | |
Gesetzgebung angeht. Wir steuern ungebremst auf den nächsten Skandal zu, | |
den nächsten BER, die nächste Elbphilharmonie. Es ist angesichts der langen | |
Regierungsbeteiligung völlig klar, dass es die SPD war, die das Projekt | |
durch Desinteresse an die Wand gefahren hat. Doch die SPD wird trotzdem | |
wieder gewählt werden. | |
Warum? | |
Das ist eine gute Frage, auf die ich keine Antwort habe. Das wundert mich | |
auch, schockieren tut’s mich jedoch nicht mehr. Ich glaube, es hat ganz | |
viel mit einer Mentalität der Berlinerinnen und Berliner zu tun, am ehesten | |
zufrieden zu sein, wenn sie von der Politik in Ruhe gelassen werden. Und | |
das ist es vielleicht, was sie von der SPD am ehesten bekommen. | |
Die Piraten waren also mit ihren ganzen Forderungen nach Bürgerbeteiligung | |
die völlig falsche Partei für diese Stadt? | |
Für die Mehrheit stimmt das. Aber die Mehrheit war ja für uns als junge | |
Partei auch nicht das Ziel. Eine Minderheit wählt unorthodox und will | |
Veränderungen. Das revolutionäre Element, das man für eine Mehrheit | |
bräuchte, das fehlt auch in Berlin. | |
23 Jul 2015 | |
## AUTOREN | |
Stefan Alberti | |
Bert Schulz | |
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Martin Delius | |
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