# taz.de -- Wikileaks-Enthüllungen: Peinlich berührt | |
> Mehr als 250.000 Dokumente von US-Diplomaten veröffentlicht Wikileaks. | |
> Sie zeichnen arabische Politiker als feige. Doch in arabischen Medien ist | |
> darüber nichts zu erfahren. | |
Bild: Außenministerin Hillary Clinton beim Smalltalk mit dem saudischen Außen… | |
KAIRO taz | In der arabischen Welt ziehen die von Wikileaks | |
veröffentlichten diplomatischen US-Depeschen den Präsidenten, Königen, | |
Emiren und Revolutionsführern regelrecht die Hosen runter. Die Dokumente | |
geben ihnen nicht nur Blöße, was die amerikanische Einschätzung ihrer | |
vorhandenen oder nicht vorhandenen Fähigkeiten angeht - hier geht es um die | |
große Politik und schwelende Konflikte, die auch in Kriegen enden können. | |
Das gilt besonders für das tiefe Misstrauen arabischer Führer gegen den | |
Iran. Der ist nicht nur eine benachbarte Regionalmacht, sondern über die | |
Hisbollah im Libanon, die Hamas in den palästinensischen Gebieten und die | |
besonderen Beziehungen zu Syrien eine feste Größe in der arabischen | |
Politik. So hat es eine besondere Brisanz, wenn etwa der saudische | |
Botschafter in Washington König Abdallah mit der Forderung zitiert: | |
"Schneidet der iranischen Schlange den Kopf ab." Oder wenn der ägyptische | |
Präsident Husni Mubarak die Iraner als "große fette Lügner" bezeichnet und | |
den iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad als einen Mann, "der nicht | |
rational denken kann" und der "immer wieder Ärger macht". Oder wenn der | |
Kronprinz von Abu Dhabi, Mohammed bin Zayed, den USA vorschlägt, | |
"Bodentruppen zu schicken, wenn ein Luftangriff nicht ausreicht, um die | |
iranischen Nuklearziele auszuschalten". | |
So zeichnen die diplomatischen Dossiers ein Porträt arabischer Führer, die | |
zu feige sind, ihre Ansichten öffentlich auszusprechen, und die die USA die | |
Drecksarbeit machen lassen wollen. | |
Aber selbst untereinander dürften die Enthüllungen zu einigen | |
diplomatischen Verwicklungen führen, wenn Mubarak den irakischen | |
Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki als "iranischen Agenten" bezeichnet, | |
"dem man nicht trauen kann". | |
Interessant ist auch der Gehorsam der arabischen Regime gegenüber den USA - | |
trotz gegenteiliger öffentlicher antiamerikanischer Rhetorik. | |
Wenn etwa der jemenitische Präsident Ali Abdullah Salah mit dem US-General | |
David Petraeus über die geheimen Einsätze des US-Militärs gegen al-Qaida im | |
Jemen spricht und sagt: "Wir behaupten einfach, wir Jemeniten hätten sie | |
bombardiert". Worauf sein Vizeregierungschef süffisant hinzufügt: "Der | |
Präsident hat dazu auch gerade das Parlament angelogen." | |
Natürlich gibt es auch einige eher unterhaltsame Enthüllungen, etwa über | |
den libyschen Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi oder den Jemeniten | |
Abdullah Saleh, der Präsident eines der konservativsten islamischen Länder | |
überhaupt ist und bei einem Gespräch mit US-General David Petraeus über das | |
Problem des Schmuggels aus Dschibuti sagt, sein Problem seien der Drogen- | |
und der Waffenschmuggel, nicht der Whiskey, "solange er guter Qualität | |
ist". | |
Über all das ist in den arabischen Medien nichts zu lesen. Dabei hatten sie | |
in den letzten Tagen in der Erwartung, Wikileaks würde wieder einmal die | |
USA vorführen, die Enthüllungen angekündigt. Nun berichteten die arabischen | |
Medien über wenig charmante Bemerkungen über europäische Politiker, aber | |
nicht über die Auslassungen über arabische Politiker. | |
Selbst die großen "unabhängigen" Fernsehstationen hielten sich zurück, | |
schließlich wird al-Dschasira vom Emir von Katar finanziert und al-Arabia | |
von den Saudis. Beide würden am liebsten die Geschichte ganz verschweigen. | |
Einzige Ausnahme: die in London erscheinende überregionale Tageszeitung | |
al-Quds-al-Arabi, die zu den arabischen Machthabern schreibt: "Irgendwann | |
werden sie kapieren, dass es gefährlich für die arabischen Länder ist, dem | |
amerikanischen Projekt in der Region blind im Geheimen zu folgen und zu | |
glauben, dass das nicht irgendwann herauskommt." | |
Anders als die offiziellen Medien ist der Kurznachrichtendienst Twitter in | |
der arabischen Welt nach den ersten Enthüllungen regelrecht explodiert, und | |
verschiedene arabische Blogs geben genüsslich alle peinlichen Details ihrer | |
Regime wieder. | |
Was dieses diplomatische Erdbeben für die zukünftige Politik in der Region | |
bedeutet, ist noch vollkommen unklar. In keinem anderen Teil der Welt | |
klafft die Lücke zwischen öffentlicher Rhetorik und Realpolitik so weit | |
auseinander wie hier. | |
Die große Frage, die im Raum steht, lautet: Werden die politischen Führer | |
jetzt, wo die privaten Ansichten bekannt sind, sich dazu öffentlich | |
bekennen oder werden sie vor lauter Peinlichkeit noch mehr Rücksicht auf | |
die öffentliche Meinung nehmen? | |
Auf jeden Fall darf man sich jetzt schon auf die nächsten politischen | |
Treffen freuen, wenn die iranischen und arabischen Führungen in einem Raum | |
zusammensitzen werden. | |
30 Nov 2010 | |
## AUTOREN | |
Karim Gawhary | |
Karim El-Gawhary | |
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